Geringqualifizierte
Wer ist gemeint, wenn von „Geringqualifizierten“ die Rede ist?
Der Begriff „Geringqualifizierte“ fällt häufig, wenn es um Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik geht. Im Zuge des Fachkräftemangels gerät diese Gruppe in den Blick; sie soll die Folgen des demografischen Wandels durch Weiterqualifizierung auffangen helfen. Gemeint sind dann meist Menschen ohne formalen Bildungsabschluss, An- und Ungelernte – aber auch die sogenannten „Bildungsfernen“ oder „Lernungewohnten“. Dies sind Begriffe, die jedoch einen diskriminierenden Charakter haben. Dieser Wissensbaustein fragt: Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von „Geringqualifizierten“ reden?
DefinitionWer ist das?
„Geringqualifizierte“ stellen keine homogene Gruppe dar. Menschen gelten als „geringqualifiziert“,
- wenn sie zwar einen formalen Berufsabschluss haben, aber keine entsprechende Beschäftigung gefunden haben,
- wenn ihre ausländischen Abschlüsse nicht anerkannt sind,
- wenn sie für die in ihrer beruflichen Tätigkeit erworbenen Kompetenzen kein Zertifikat erworben haben,
- wenn sie einen beruflichen Anschluss nie geschafft haben oder ihre Erwerbskarrieren durch häufige Arbeitslosigkeit unterbrochen wurden.
Wir finden diese Gruppe in allen Bildungsbereichen; eine einheitliche Definition existiert nicht.
Arbeitsmarktforscher gehen von den Qualifikationsanforderungen der jeweiligen Arbeitsplätze aus und definieren folgendermaßen: „Stellen bzw. Personen, deren Tätigkeit zum Bereich der einfachen Arbeit gehört, sind un- und angelernte Beschäftigte sowie Angestellte bzw. Beamte, die Tätigkeiten ausüben, für die keine Berufsausbildung erforderlich ist. Diese werden im Weiteren vereinfachend als „Geringqualifizierte“ bezeichnet“ (Bellmann & Stegmaier, 2007, S. 11).
GeschichteWoher kommt der Begriff?
Bereits im antiken Griechenland war körperliche Arbeit den Sklaven und den Frauen vorbehalten, und auch im antiken Rom zeichnete sich der Staatsbürger dadurch aus, dass er körperliche Arbeit delegieren konnte.
Auch im Christentum wurde an diese Tradition angeknüpft. Die „vita contemplativa“ war die höherwertige Lebensform gegenüber der „vita activa“, weil sie eine größere Nähe zu Gott ermöglichen sollte. Auch wenn mit Luther jeder Berufsstand als gottgefällig geadelt wird, zieht sich die Unterscheidung zwischen körperlicher und geistiger – intellektueller Arbeit bis heute durch.
Die Debatte um die Zuordnung der Berufe zu bestimmten Niveaustufen hat diese alten Gegensätze im Rahmen der Entwicklung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) wiederbelebt: Hier geht es um die Frage, ob das Abitur und das erfolgreiche Bestehen einer Ausbildung im dualen System auf der gleichen Niveaustufe einzuordnen sind.
MerkmaleWie gestaltet sich Bildungsarbeit mit „Geringqualifizierten“?
Unabhängig davon, ob man vom Qualifikationsprofil oder von den konkreten Anforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes ausgeht, ergeben sich Folgen für die Bildungsarbeit.
Orientierung am Qualifikationsprofil
Wenn Sie in Integrationskursen mit Flüchtlingen konfrontiert werden, deren Berufs- oder Hochschulabschlüsse aus dem Herkunftsland in Deutschland (noch) nicht anerkannt sind, so ist der fehlende (anerkannte) Berufsabschluss kein tragfähiges Beurteilungskriterium. In berufsbildenden Maßnahmen der Arbeitsverwaltung, die nach dem Kriterium der fehlenden Abschlüsse zusammengestellt werden, finden Sie hochqualifizierte Flüchtlinge ebenso wie Einheimische, die keinen Schulabschluss haben.
Die Orientierung am formalen Berufsabschluss hat noch andere Tücken. So haben viele, die heute als EDV-Administratoren oder IT-Experten arbeiten, sich ihre berufliche Kompetenz autodidaktisch angeeignet und ihre Fähigkeiten im Beruf unter Beweis gestellt, sie häufig aber nicht zertifizieren lassen. Werden diese Menschen arbeitslos, fallen sie unter die Kategorie „Geringqualifizierte“.
Orientierung an den Arbeitsanforderungen
Auch an sogenannten Einfacharbeitsplätzen sind in den vergangenen Jahren die Arbeitsanforderungen immer anspruchsvoller geworden (Bosch, 2014, S. 24), etwa bei der Arbeit von Hilfskräften in der Altenpflege als Demenzbegleiter/in. Die Gleichsetzung „Einfacharbeitsplätze = Geringqualifizierte“ trifft immer weniger zu. Im Niedriglohnsektor, der im Alltagsverständnis als Domäne der „Geringqualifizierten“ verstanden wird, verfügen 75 Prozent der Niedriglohnbezieher über einen anerkannten Berufsabschluss (ebd., S. 25).
HandlungsfelderWie steht es um die Beteiligung „Geringqualifizierter“ in der Weiterbildung?
Menschen ohne formalen Berufsabschluss beteiligen sich weit unterdurchschnittlich an Angeboten der Weiterbildung in formalen Kontexten. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass sie generell lernunwillig sind; sie ziehen oftmals das Lernen im Prozess der Arbeit oder das arbeitsplatznahe Lernen vor. Sie schätzen formale Lernkontexte als für sie weniger geeignet ein (Schiersmann, 2006; Baethge & Baethge-Kinsky, 2004) und bevorzugen daher andere Lernkontexte.
Die Gruppe der „Geringqualifizierten“ ist in der Weiterbildung deutlich unterrepräsentiert. So zeigt der Deutsche Weiterbildungsatlas von 2015 (Martin et al., 2015), dass die Teilnehmerquote der Geringqualifizierten bei unter sieben Prozent liegt; die der Personen mit Ausbildungs- oder Hochschulabschluss liegt dagegen bei über 22 Prozent.
Befragte ohne Berufsabschluss nehmen selten an beruflicher Weiterbildung teil, weil
- sie darin keinen Nutzen sehen (30,7%),
- ihre Belastungen/Zeitressourcen das nicht zulassen (28,9%),
- sie zu wenig informiert sind oder entsprechende Angebote fehlen (24,9%).
Die Kosten spielen nur eine marginale Rolle. Nur 12,7 Prozent geben hohe Kosten als Begründung für ihre Weiterbildungsabstinenz an (Schiersmann, 2006, S. 48ff.).
Eine Studie aus Großbritannien (MacKeracher et al., 2006) hat sich intensiver mit den Weiterbildungsbarrieren beschäftigt und kommt zu dem Ergebnis, dass insgesamt vier Typen von Barrieren zu unterscheiden sind, die eine Teilnahme an Weiterbildung verhindern (Tab. 1).
Die Übersicht macht deutlich, dass Nicht-Beteiligung an Weiterbildung viele Ursachen haben kann, deren Begründung eine Analyse der Lebenssituation der „Weiterbildungsabstinenzler“ erfordern würde. Sicher scheint: „Eindimensionale Erklärungsversuche, wie die Unterstellung einer allgemeinen Bildungsferne, erklären nichts, sie entlasten bestenfalls die bildungspolitischen Entscheidungsträger, weil sie die Verantwortung für Nichtteilnahme den Individuen anlasten“ (Reutter, 2015, S. 31).
DiskussionWas wird diskutiert?
Die Frage, wie die Weiterbildungsbeteiligung Geringqualifizierter erhöht werden kann, beschäftigt die Erwachsenenbildung schon seit Jahrzehnten. So hat Hans Tietgens bereits in den 1960er Jahren in einem Artikel die Frage „Warum kommen wenig Industrie-Arbeiter in die Volkshochschule?“ diskutiert.
In der Literatur schon länger diskutiert, in der Praxis aber nach wie vor selten umgesetzt, ist die Frage, wie das von dieser Zielgruppe bevorzugte informelle Lernen stärker bereitgestellt werden kann. Dazu zählen die Fragen, wie Arbeitsorte zu Lernorten werden können, welche Voraussetzungen in den Betrieben, aber auch bei den Weiterbildungsanbietern gegeben sein sollten, um arbeits- und arbeitsplatznahes Lernen zu ermöglichen. Von den Weiterbildungsanbietern wird dabei ein hohes Maß an Flexibilität verlangt, wenn etwa ein Bildungsangebot am Ende der Spätschicht oder zu Beginn der Frühschicht durchgeführt werden soll. Hinzu kommt: Da die Weiterbildungsinhalte auf die konkreten Arbeitsanforderungen bezogen sein sollen, ist der Rückgriff auf bewährte Curricula kaum möglich. Die Kompetenz, Betriebe hier zu beraten, wird ebenso wichtig wie die Kompetenz der guten Lehre. Ohne beides ist eine gute Integration informellen Lernens in den Arbeitsalltag kaum möglich.
Diskutiert werden auch neue Lernformate, weil es in den Klein- und Mittelunternehmen (1–249 Beschäftigte) oft nicht möglich ist, Lerngruppen zu bilden. Erste Versuche mit Einzel- oder Tandemcoaching (Klein & Rudolph, 2015; Folger & Aigner, 2015) scheinen die Brauchbarkeit dieser Formate zu bestätigen.
Internationale BezügeWie sieht man das woanders?
Die Europäische Union definiert die Gruppe der Geringqualifizierten als diejenigen, die ausschließlich einen Haupt- oder Realschulabschluss beziehungsweise keinen Schulabschluss haben, und die keinen anerkannten beruflichen Abschluss haben.
Die OECD definiert Geringqualifizierte als Personen, die weder über eine abgeschlossene Berufsausbildung noch über das Abitur verfügen.
Verwandte Begriffe
Bildungsferne, Bildungsbenachteiligte, Lernungewohnte, informelles Lernen, berufliche Weiterbildung, betriebliche Weiterbildung
Zur Reflexion
- Welche Begriffe zur Beschreibung der Zielgruppe der Geringqualifizierten verwenden Sie in Ihrer Bildungspraxis?
- Welche Begriffe nutzen Sie in Programmtexten, Konzeptentwicklungen, Teambesprechungen?
- Welche Begriffe nutzen Sie in der konkreten Ansprache der Zielgruppe?
- Welche besonderen Merkmale bringen Geringqualifizierte in Ihren Bildungsangeboten mit?
- Was bedenken Sie vor allem, wenn Sie wissen, dass Sie einen Kurs anbieten, in den Geringqualifizierte integriert werden sollen oder in dem Geringqualifizierte sind?
Literaturliste
- Klein, H., & Schöpper-Grabe, S. (2015). Arbeitsplatzorientierte Grundbildung für Geringqualifizierte aus der Sicht von Personalexperten – Anforderungen, Angebote, Erfolgsfaktoren. Alfa-Forum, (87), 5–7.
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat Interviews mit Personalexpertinnen und Personalexperten durchgeführt, um aus deren Perspektive ein genaueres Bild über die Förderung von Weiterbildung und Grundbildung für erwerbstätige Geringqualifizierte zu erhalten. Die Ausführungen machen deutlich, wie auch die Anforderungen an die Tätigkeitsbereiche für Geringqualifizierte zukünftig steigen werden. Die Autorin und der Autor zeigen die Erfolgsfaktoren für betriebliche Grundbildungsmaßnahmen für Geringqualifizierte und die Handlungsperspektiven, die Personalexperten sehen. - Reutter, G. (2015). Geringqualifizierte in der arbeitsorientierten Grundbildung – wer sind sie und was brauchen sie? In M. Kunzendorf & J. Meier (Hrsg.), Arbeitsplatzorientierte Grundbildung. Grundlagen, Umsetzung und Ergebnisse (S. 25–36). Bielefeld: W. Bertelsmann.
In seiner kritischen Analyse geht der Autor den Fragen nach, warum Geringqualifizierte auf der politischen Agenda stehen und wie es in Deutschland mit seinem differenzierten Bildungssystem überhaupt möglich ist, dass Menschen geringqualifiziert erwachsen werden. Er geht auch den Gründen für die „Weiterbildungsabstinenz“ der Zielgruppe nach und stellt schließlich die wichtige Frage nach den Stellschrauben, an denen gedreht werden müsste, um die Chancen für eine Weiterbildungsteilnahme von Geringqualifizierten zu erhöhen.
Abraham, E. (2010). Betriebliche Weiterbildung für Geringqualifizierte. Ein Akquise-Leitfaden für Personalentwickler. Bielefeld: W. Bertelsmann.
Baethge, M., & Baethge-Kinsky, V. (2004). Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen. Münster: Waxmann.
Bellmann, L., & Stegmaier, J. (2007). Einfache Arbeit in Deutschland. Restgröße oder relevanter Beschäftigungsbereich? In Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik (Hrsg.), Perspektiven der Erwerbsarbeit: Einfache Arbeit in Deutschland. Dokumentation einer Fachkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung (S. 10–24). Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bosch, G. (2014). Langzeitarbeitslose – Restgröße der Wissensökonomie? In Stadt Dortmund (Hrsg.), Dokumentation der Dortmunder Arbeitsmarktkonferenz vom 15.12.2014 (S. 19–34). Dortmund.
Folger, K., & Aigner, T. (2015). AoG-Einzelcoaching – Ein vielversprechendes Format der arbeitsorientierten Grundbildung. Alfa-Forum, (87), S. 11–13.
Hefler, G. (2013). Eine Frage des Geldes? – Theoretische Perspektiven zur Wirksamkeit von nachfrageorientierter Weiterbildungsfinanzierung. In B. Käpplinger, R. Klein, & E. Haberzeth (Hrsg.), Weiterbildungsgutscheine. Wirkungen eines Finanzierungsmodells in vier europäischen Ländern (S. 79–103). Bielefeld: W. Bertelsmann.
Klein, R. (2015). Arbeitsorientierte Grundbildung – Personalentwicklung für Geringqualifizierte? In M. Kunzendorf & J. Meier (Hrsg.), Arbeitsplatzorientierte Grundbildung. Grundlagen, Umsetzung und Ergebnisse (S. 9–24). Bielefeld: W. Bertelsmann.
Klein, R., Reutter, G., & Zisenis, D. (Hrsg.). (2011). Bildungsferne Menschen – menschenferne Bildung? Grundlagen und Praxis arbeitsbezogener Grundbildung. Göttingen: Institut für angewandte Kulturforschung e.V.
Klein, R., & Rudolph, M. (2015). AoG-Coaching als neues Angebotsformat in der Arbeitsorientierten Grundbildung!? Alfa-Forum, (87), 20–25.
MacKeracher, D., Suart, T., & Potter, J. (2006). Barriers to Participation in Adult Learining – State of the Field Report. University of New Brunswick.
Martin, A., Schömann, K., Schrader, J., & Kuper, H., (Hrsg.). (2015). Deutscher Weiterbildungsatlas. Bielefeld: W. Bertelsmann.
Schiersmann, C. (2006). Profile lebenslangen Lernens. Bielefeld: W. Bertelsmann.
Tietgens, H. (1964). Warum kommen wenig Industrie-Arbeiter in die Volkshochschule? Frankfurt a.M.: PAS/DVV.