Heterogene Lerngruppen
Vielfalt als Herausforderung und Chance in der Erwachsenenbildung
Der Begriff „Vielfalt“ hat Konjunktur – ob in Unternehmen, Schulen, Familien oder unserer Gesellschaft als Ganzes. Der Trend hin zur Individualisierung erfordert von allen gesellschaftlichen Institutionen mehr Flexibilität und einen Abschied vom Denken in Schablonen. Auch die Erwachsenen- und Weiterbildung muss sich dieser Herausforderung stellen und auf die zunehmende Heterogenität ihrer Teilnehmerschaft eine Antwort finden.
DefinitionWas ist das?
Heterogenität bezeichnet in der Pädagogik die Unterscheidung zwischen Lernenden in einer Lerngruppe entlang verschiedener Merkmale – auch Heterogenitätsfaktoren (→ Abb. 1) genannt –, die als lernrelevant eingestuft werden. Dies können z. B. sein:
- Alter und Geschlecht,
- die vorhandene Wissensbasis,
- Interessen,
- Lerntypen/Lernstile,
- Lernmotivation,
- kulturelle und soziale Herkunft.
Heterogenität unter Lernenden wird von der Gesellschaft, Institutionen oder auch von Lehrkräften häufig als erschwerend für das Erreichen eines Lernziels angesehen und anscheinend eher als ein negativer Faktor bewertet. Der Begriff "Diversität" – oder auch "Diversity" – wird mittlerweile häufig benutzt, um im Gegensatz zur Heterogenität die Verschiedenheit als Chance und Bereicherung zu begreifen.
GeschichteWoher kommt das?
Der Umgang mit Heterogenität innerhalb von Lerngruppen hat in der deutschen Pädagogik, vor allem in der Schulpädagogik, eine lange Tradition. Heterogenität wurde dabei lange Zeit jedoch als hinderlich für den Lernfortschritt angesehen. Der Unterricht wurde an einem fiktiven, durchschnittlichen Schüler ausgerichtet, der exemplarisch für alle Schülerinnen und Schüler stand und das Tempo und das Niveau bestimmte. Auf diese Weise wurden die einen über- und die anderen unterfordert. Darüber hinaus sollten das gegliederte Schulsystem sowie Maßnahmen wie das „Sitzenbleiben“ dafür sorgen, Homogenität – also Gleichheit – innerhalb der Schulen herzustellen (Rebel, 2010, S. 20). Es gab jedoch auch schon frühe Ansätze zur Überwindung einer Pädagogik, die auf einem möglichst hohen Grad an Homogenität beruht. Pädagogen wie der Brasilianer Paulo Freire (1921–1997) betrachteten den Bildungsprozess als einen Dialog zwischen den Lehrenden und den Lernenden, innerhalb dessen sich die Rollen auch wandeln konnten: Der Lehrende wird zum Lernenden. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich auch der Umgang mit heterogenen Lerngruppen gestalten. Reformpädagogische Strömungen legten einen hohen Wert auf einen angemessenen Umgang mit Heterogenität und in den 1970er Jahren gab es zunehmend Bestrebungen hin zum individualisierten Lernen, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Lernenden gerecht zu werden.
MerkmaleWie geht das?
In der Erwachsenenbildung sind heterogene Lerngruppen Realität. Es gibt zweierlei Möglichkeiten eines angemessenen Umgangs damit. Diese besteht zum einen in einer äußeren Differenzierung in Form eines breit aufgestellten Weiterbildungsangebots, mit dem Ziel, von vorneherein möglichst homogene Lerngruppen zu bilden. Zum anderen wird darauf mit einer inneren Differenzierung bzw. Binnendifferenzierung (individuelle Förderung unter Berücksichtigung verschiedener Lernstile, Vorwissen etc.) unter Anwendung diverser Methoden reagiert. Dies soll den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, die die Teilnehmenden mitbringen, gerecht werden.
Nach Rebel (2010) zeigen viele nationale und internationale Forschungsprojekte, dass ein offener und produktiver Umgang mit Heterogenität in Form von individualisiertem Lernen und Binnendifferenzierung viele Unterrichtsprobleme lösen könnte. Es seien jedoch bisher zu wenige Lehrkräfte auf diese Entwicklung eingegangen. Dabei können diese die Lernenden durch den Einsatz verschiedener Methoden der Binnendifferenzierung zu selbstständigem Lernen anregen, um infolgedessen eine individualisierte Förderung zu erreichen.
Die Bildung homogener Lerngruppen hingegen – unabhängig davon, ob dies ein erstrebenswertes Ziel ist – ist angesichts der Vielzahl lernrelevanter Unterscheidungsmerkmale schwer realisierbar. Weiterbildungseinrichtungen, wie beispielsweise Volkshochschulen, sprechen trotz einer Angebotsdifferenzierung ein breites Publikum an. Lehrkräfte sollten sich daher auf den Umgang mit heterogenen Lerngruppen einstellen.
HandlungsfelderWo brauche ich das?
Jede Lehrkraft, die das erste Mal vor einem Kurs steht, bemerkt schnell, dass die Lernenden unterschiedliche Lernvoraussetzungen, Erwartungen oder Lernstile haben. Die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen erfordert von den Lehrkräften eine hohe diagnostische Kompetenz, sowohl was die Eingangsdiagnose z. B. der Lerntypen betrifft als auch laufende Diagnosen z. B. bezüglich der Lernfortschritte. All dies erfordert Zeit und setzt neben der Kompetenz der Lehrenden auch voraus, dass die Kursanbieter für Lernende und Lehrende angemessene Bedingungen schaffen.
Aus der wissenschaftlichen Literatur (Aschemann, Gugler, & Nimmerfall, 2011, S. 5) ergeben sich die folgenden Möglichkeiten der Differenzierung:
- Differenzierung nach Leistungsanforderungen bzw. Schwierigkeitsgraden (Niveaudifferenzierung),
- Differenzierung nach Lerninhalten bzw. Themen,
- Differenzierung nach Lernzielen,
- Differenzierung nach Medien, Materialien oder Textsorten,
- Differenzierung nach Methoden,
- Differenzierung nach Lernzeiten,
- Differenzierung nach Lerntechniken/Lernstrategien (Fördern von individuellen Lernstilen).
Die Binnendifferenzierung gibt Lehrenden Methoden an die Hand, um auf heterogene Lerngruppen zu reagieren. Sie bewegt sich dabei zwischen zwei Polen. Die „latente Differenzierung” erfolgt in der gesamten Lerngruppe, indem beispielsweise individuelle Fragen von der Lehrkraft gestellt oder individuelle Hilfestellungen gegeben werden. Voraussetzung für die Anwendung von Methoden zur „latenten” Differenzierung ist jedoch, dass die Lerngruppe nicht zu heterogen zusammengesetzt ist. Der andere Pol besteht im Einzelunterricht innerhalb der Gruppe. Die Lerner verfolgen ihre eigenen Lernziele mit individualisierten Lernplänen und die Lehrkräfte unterstützen individuell. Zwischen diesen beiden Polen finden sich zahlreiche weitere Methoden zur Binnendifferenzierung, die auch unter Materialien auf wb-web.de heruntergeladen werden können.
In der Praxis kann es durchaus Sinn machen, zu Beginn eines Kurses nicht direkt mit Methoden zur Binnendifferenzierung zu starten, sondern zunächst in der Gruppe zu agieren. Auf diese Weise wird aufseiten der Lernenden das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit gestärkt, was beispielsweise in Kursen mit vielen Teilnehmenden mit Migrationshintergrund, die zuvor Ausgrenzung erlebt haben, ein wichtiger Faktor sein kann. Außerdem hat die Lehrkraft auf diese Weise die Möglichkeit, die Stärken und Schwächen der Teilnehmenden eindeutig zu erkennen, um anschließend passgenaue Lernangebote zu schaffen. Eine schrittweise Einführung der Binnendifferenzierung kann außerdem jenen Weiterbildungsteilnehmenden den Übergang erleichtern, die einen traditionellen Frontalunterricht gewohnt sind (Freiling, Onana, & Sonntag, 2010, S. 25f.).
DiskussionWas wird diskutiert?
Die anhaltenden Individualisierungstendenzen in unserer Gesellschaft veranlassen Rebel dazu, Differenzierung und Individualisierung als Antwort auf die wachsende Heterogenität in der Gesellschaft „als die pädagogischen Themen und die Herausforderungen unserer Epoche“ zu bezeichnen (Rebel, 2010, S. 20).
Der Umgang mit heterogenen Lerngruppen bewegt sich in der Regel zwischen zwei gegensätzlichen Sichtweisen. Auf der einen Seite wird Heterogenität innerhalb von Lerngruppen als Hemmnis betrachtet, das nur mit Maßnahmen zur Schaffung größerer Homogenität überwunden werden kann. Auf der anderen Seite wird Heterogenität als Chance begriffen, indem die Verschiedenheit auf produktive Weise genutzt wird.
Internationale BezügeWie sieht man das woanders?
In den USA und in Kanada ist das Bewusstsein für Heterogenität in der Gesellschaft traditionell tief verankert. Dies spiegelt sich auch im Bildungsbereich wider. Community Colleges (vergleichbar mit berufsbildenden Schulen in Deutschland) möchten möglichst breiten Bevölkerungsschichten einen Zugang zu Bildung ermöglichen. Sie bieten weiterführende Bildungsabschlüsse sowohl für Schulabgänger als z. B. auch für Berufstätige an, die sich weiter qualifizieren möchten. Dementsprechend groß ist die Altersspanne, die von 18 bis ca. 60 Jahren reichen kann. An den Community Colleges zeigt sich außerdem ethnische Vielfalt. An einer Vielzahl der Community Colleges ist das Diversity Management – also der strategische Umgang mit Heterogenität – institutionalisiert. Es gibt beispielsweise Fortbildungsangebote für die Lehrkräfte zum verbesserten Umgang mit den heterogenen Bildungsteilnehmenden. So vermitteln Kurse den Lehrkräften, wie sie ihre Studierenden besser kennenlernen, deren Fähigkeiten einschätzen und wie sie ihre Interaktion mit den heterogenen Lerngruppen üben können.
Verwandte Begriffe
Diversität, Diversity, Inklusion, Lerntypen/Lernstile, Teilnehmerorientierung, Zielgruppenorientierung
Zur Reflexion
Notieren Sie sich die drei aus Ihrer Sicht – mit Blick auf Ihre Arbeit als Lehrkraft – wichtigsten Heterogenitätsfaktoren, die die Teilnehmenden in Ihrem Kurs voneinander unterscheiden.
- Ausgehend von diesen drei Heterogenitätsfaktoren: Wie
könnten Sie Ihren Kurs gestalten, um auf die Heterogenität der Teilnehmenden in
diesen Punkten einzugehen?
Literaturliste
- Aschemann, B., Gugler P., & Nimmerfall M. (2011). Vierzig Wege der Binnendifferenzierung für heterogene
LernerInnen-Gruppen. Graz: Frauenservice Graz.
Der Reader erläutert übersichtlich die Voraussetzungen von Binnendifferenzierung sowie die Hoffnungen und Ziele, die sich damit verbinden. Die Zusammenstellung von 40 Methoden für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen ist für Lehrende besonders hilfreich. Einige der Methoden und Beispiele stammen aus der Alphabetisierungspraxis, während sich ein Großteil der Methoden auch auf andere Bereiche anwenden lässt. - Freiling, E., Onana, M. B., & Sonntag, I. (2010).
Binnendifferenzierung: gezielt und wohldosiert. Alfa-Forum (74), 25–27.
Der Beitrag der drei Autorinnen ist ein praxisnah geschriebener Bericht aus einem Forschungsprojekt zum Einsatz der Binnendifferenzierung in der Alphabetisierung von Migrantinnen und Migranten. Sie plädieren dafür, vor dem Einsatz von Methoden zur Binnendifferenzierung zu Beginn einer Kursreihe das Gruppengeschehen in den Vordergrund zu stellen und Binnendifferenzierung schrittweise einzuführen. - Siller, J. (2013). Wie
setzen sich Lehrkräfte einer VHS mit heterogenen Lerngruppen auseinander? (Diplomarbeit).
Universität Wien.
In ihrer Diplomarbeit arbeitet Jennifer Siller heraus, inwiefern sich theoretische Ansätze, die Heterogenität der Lernenden produktiv im Unterricht zu nutzen, mit der Praxis decken. Dafür hat die Autorin eine Fallstudie an Wiener Volkshochschulen durchgeführt.
Aschemann, B., Gugler P., & Nimmerfall, M. (2011). Vierzig Wege der Binnendifferenzierung für heterogene LernerInnen-Gruppen. Graz: Frauenservice Graz.
Freiling, E., Onana, M. B., & Sonntag, I. (2010). Binnendifferenzierung: gezielt und wohldosiert. Alfa-Forum (74), 25–27.
Grimm, A. (2010). Diversity Management an Community Colleges in den USA und Kanada. Berufsbildung. Zeitschrift für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule (123), 49–51.
Hauenschild, K., Robak, S., & Sievers, I. (2013). Diversity Education. Zugänge – Perspektiven – Beispiele. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.
Hubertus, P. (2010). Teilnehmerorientierung und das Verhältnis von Lehren und Lernen. Alfa-Forum (74), 38–40.
Rebel, K. (2010). Heterogenität als Chance nutzen lernen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Siller, J. (2013). Wie setzen sich Lehrkräfte einer VHS mit heterogenen Lerngruppen auseinander? (Diplomarbeit). Universität Wien.
Tenorth, H.-E. (Hrsg.). (2003). Klassiker der Pädagogik. Von John Dewey bis Paulo Freire. München: C. H. Beck.