Wissensbaustein

Pädagogische Diagnostik

Wer sind meine Lernenden? Wo stehen sie? Wo gehen wir wie gemeinsam hin?

Die Pädagogische Diagnostik zählt zu den Kernkompetenzen der Lehrenden. Als einflussreichste Kraft im Lehr-Lernprozess müssen Lehrpersonen wahrnehmen, was Lernende denken, wissen und darüber hinaus, wie jede/r Einzelne am wirkungsvollsten lernt.

DefinitionWas ist das?

Der Begriff „Diagnostik“ umfasst alle Tätigkeiten, die die Voraussetzungen und Bedingungen für erfolgreiche Lehr- und Lernprozesse eines Lernenden ermitteln. Darüber hinaus werden Lernprozesse analysiert und es wird ihre Wirksamkeit, die sich im Lernergebnis niederschlägt, festgestellt. Ziel der Diagnostik ist es, den individuellen Lernprozess zu optimieren.

Aus den Lernergebnissen können in einem zweiten Schritt Empfehlungen oder Zulassungen im beruflichen Arbeitsfeld abgeleitet werden.

Unterschieden wird zwischen „informeller“, „formeller“ und „semiformeller“ Diagnostik. Während die informelle Diagnostik eher eine allgemeine Wahrnehmung des Lehrenden widerspiegelt, erfolgt die semiformelle Diagnostik gezielt. Das Ergebnis basiert dennoch auf subjektiven Eindrücken. Im Gegensatz zu den vorgenannten Formen erbringt die formelle Diagnostik aufgrund systematisch angewandter Methoden gute Resultate mit geringer Fehlerquote (Abb. 1).

Grafische Darstellung zu informeller, semiformelle, formelle Diagnostik

Abbildung 1: Formen der Diagnostik (eigene Darstellung nach Hascher, 2008)

GeschichteWoher kommt das?

In Anlehnung an die psychologische Diagnostik führte Ingenkamp im Jahr 1968 den Begriff „Pädagogische Diagnostik“ als Sammelbegriff für „Beurteilungslehre“ bzw. „Leistungsmessung“ ein. Bis in die Mitte der 1980er Jahre entstand eine Vielzahl von Definitionen. Im Kern all dieser Definitionen steht die Frage danach, wie und mit welcher Methode die Lehrkraft am erfolgreichsten den Lernenden Wissen vermitteln, das Ergebnis messen und den Lehr-Lernprozess individuell steuern kann. 

MerkmaleWie geht das?

Das Verfahren folgt einem Diagnosekreislauf (Abb. 2) und ist ein sich wiederholender Prozess. 

Kreise zur Darstellung des Diagnosezyklus.

Abb. 2: Diagnosekreislauf (eigene Darstellung)

Dem Prozess ist die Fragestellung voranzustellen, welches Verhalten gemessen werden soll.

Um Kompetenzen zu bewerten, müssen diese messbar gemacht werden. Gemessen wird das gezeigte Verhalten. Daraus können Rückschlüsse auf die Kompetenz gezogen werden. Hierzu muss zunächst festgelegt werden, welches Verhalten auf welche Kompetenz Rückschlüsse zulässt. Anders als in der psychologischen Diagnostik ist die bewertende Person Teil der Situation. Entsprechend sind Methoden und Instrumente auszuwählen.

Es werden vier Methoden unterschieden:

  • Befragung – mündlich, z. B. Interview oder Beratungsgespräch, und schriftlich, z. B. Fragebogen, Test)
  • Beobachtung – des Lernprozesses, des Probehandelns, von Rollenspielen etc.
  • Materialanalyse – Portfolio, Hausaufgaben etc.
  • MischverfahrenAssessment-Center, Kompetenzpässe etc.

Um verlässliche Ergebnisse zu gewinnen, orientiert sich die Diagnostik an folgenden Gütekriterien:

  • Validität – Inwieweit wird gemessen, was gemessen werden soll?
  • Reliabilität – Wie genau ist das verwendete Verfahren in der konkreten Situation?
  • Objektivität – Ist das Ergebnis unabhängig vom Beobachtenden bzw. Prüfenden und der Situation?

Eine oft gewählte Methode ist die Beobachtung der Lernenden in der Lehr-Lernsituation. Dies aber stellt eine Doppelbelastung für den Lehrenden dar, der selbst den Unterricht leitet. Daher ist es empfehlenswert, nur wenige oder nur einen Lernenden zu einem gegebenen Zeitpunkt zu beobachten und dies auch nur zu bestimmten Verhaltensausschnitten (z. B. Textverständnis).  

Es gibt eine Reihe standardisierter Verfahren, die valide Resultate liefern: Häufigkeits- oder. Intensitätsskalen mit Ja/Nein-Bewertungen oder mehrstufige Skalen.

Die Interpretation der Ergebnisse liefert Rückschlüsse auf die Ausprägung der Kompetenzen. Dabei ist zu unterscheiden, ob das Ergebnis eher eine generelle Tendenz zeigt oder aber stark auf die Situation bezogen war und bei erneuerter Beobachtung ggf. abweichen kann. Anhand des Ergebnisses wird ein neues Ziel für den Lernprozess definiert. Dessen Erfolg wird in einem weiteren Diagnoseverfahren gemessen. 

HandlungsfelderWo brauche ich das?

Pädagogische Diagnostik bzw. die aus ihr resultierenden Erkenntnisse dienen der Vorbereitung pädagogischer Entscheidungen bezüglich der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen bzw. des Umgangs mit einzelnen Lernenden (Digel & Schrader, 2013). Die Heterogenität der Lernenden in Kursen der Erwachsenenbildung bedarf eines differenzierten Handelns im Umgang mit den Voraussetzungen und Bedarfen von Teilnehmenden. Deren Wunsch nach individueller Förderung kann durch diagnostische Verfahren unterstützt werden und diese können dazu beitragen, dass die vorab formulierten Ziele des jeweiligen Lernprozesses erreicht werden. Mithilfe des Diagnosekreislaufs kann die Lehrkraft die Unterrichtsplanung individuell auf die Zielvorgaben abstimmen und steuern.

Pädagogische Diagnostik hat dabei zwei zentrale Funktionen, die Optimierung von Lernprozessen (Prozessdiagnostik) und die Optimierung der Bewertung und Beurteilung Einzelner (Individualdiagnostik).

Die Prozessdiagnostik erfolgt lernbegleitend und zielt darauf ab, bessere Lernergebnisse zu erreichen. Im Zuge einer formativen Evaluation werden die Lernwege und Lehr-Lerninteraktionen zum Analysegegenstand und deren lernförderliche Umsetzung aus Sicht der Lehrenden sowie der Lernenden (dialogisch) hinterfragt.

Bei der Individualdiagnostik handelt es sich einerseits um eine Evaluation von Zuständen (Statusdiagnostik), die punktuelle Informationen zum jeweiligen Wissens- und Lernstand des Lernenden, zu seiner Lernmotivation oder zur Selbsteinschätzung seiner Fähigkeiten und Ziele liefert. Sie ermöglicht auch eine Prognose darüber, welche Entwicklungen zu erwarten sind.

Im Rahmen der Planung und Entwicklung von Personal dient die Individualdiagnostik andererseits der Auswahl und Bildungsberatung von Mitarbeitenden (Zuweisungs- und Selektionsdiagnostik). Wo hat der Mitarbeitende Stärken und Schwächen? Wie kann ein Mitarbeitender gefördert werden, damit er die beste Leistung für das Unternehmen liefern kann? In Assessments wird die Kompetenz des Bewerbers ermittelt, mit dem Stellenprofil abgeglichen sowie mit den Ergebnissen der Mitbewerber verglichen. 

DiskussionWas wird diskutiert?

Empirische Studien belegen, dass eine hohe Diagnosekompetenz von Lehrkräften zu besseren Lernleistungen der Lernenden führt (Helmke, 2009, S. 132). Diese Aussage bestätigt der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner Studie „Lernen sichtbar machen“ (2013). Auch in Deutschland ist von einer wachsenden Heterogenität der Lerngruppen in der Erwachsenenbildung auszugehen. Dadurch gewinnt insbesondere die Individualdiagnostik an Bedeutung. Die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in dem „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“ (PIAAC) durchgeführte Erhebung zeigt, dass fehlende Kompetenzen und Qualifikationen die erfolgreiche Teilhabe an der Gesellschaft einschränken, d.h. dass letztlich die Chancen des Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt sinken.

Internationale BezügeWie sieht man das woanders?

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse internationaler Vergleiche von schulischen Leistungen, wie PISA (2003), wird der Fokus auf die Verbesserung der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften gelegt; dies gilt auch im Rahmen der Lehreraus- und -weiterbildung.

Hattie bestätigt in seiner Studie, dass das Handeln der Lehrperson maßgeblich für die Lernleistungen der Schüler und Schülerinnen verantwortlich ist. Je präziser die Lehrkraft den individuellen Lernstand kennt und den Lernenden dort „abholt“ und motiviert, umso erfolgreicher sind die Lernprozesse.


Service

Verwandte Begriffe

Pädagogisch-psychologische Diagnostik, Pädagogische Kompetenz, Kompetenzmessung, Evaluation, objektive Hermeneutik, Erhebung, Messung, Einschätzung, Diagnose, Monitoring, Benchmarking, Diagnostische Kompetenz, Diagnostische Expertise, zweistufige subjektive pädagogische Diagnostik, Erfolgskontrolle, eigenes Reflektieren (des/der Dozent/in), ProfilPASS

Zur Reflexion

  • Wozu benötigen Sie als Lehrkraft Diagnostik?
  • Sie müssen die Kompetenz eines Lernenden für seinen weiteren Lebensweg beurteilen. Auf welche Kriterien müssen Sie achten?
  • Worin unterscheiden sich Lernprozessdiagnostik und Zuweisungsdiagnostik?

Literaturliste

  • Hattie, J. (2013). Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider.
    In seiner Studie „Visible Learning“ untersucht Hattie die Einflussfaktoren auf schulisches Lernen und bewertet sie in ihrer Stärke und ihrer praktischen Bedeutsamkeit. Das Ergebnis ist eine Rangfolge der Faktoren, die zeigt, was am besten funktioniert hat.
  • Ludwig, J. (2012). Lernberatung und Lernberatung und Diagnostik: Modelle und Handlungsempfehlungen für Grundbildung und Alphabetisierung. Bielefeld: W. Bertelsmann.
    Der Band stellt Praxiskonzepte für Lernberatung und Diagnostik vor. Mithilfe von Checklisten und konkreten Handlungsempfehlungen hat der Leser die Möglichkeit, die für ihn passenden Lernberatungskonzepte auszuwählen oder zu kombinieren. Der Band richtet sich besonders an Planende, an Beratende und Kursleitende in der Alphabetisierung und Grundbildung, aber auch an alle Akteure der Erwachsenen-/Weiterbildung.
    Link zum PDF
  • Digel, S., & Schrader, J. (Hrsg.). (2013). Diagnostizieren und Handeln von Lehrkräften – Lernen aus Videofällen in Hochschule und Erwachsenenbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann.
    Die Methode „Lernen aus Videofällen“ wird in diesem Band vorgestellt. Sie soll helfen, das eigene Lehrverhalten zu analysieren und zu professionalisieren. 

Quellen

Hascher, T. (2008). Diagnostische Kompetenz im Lehrerberuf. In C. Kraler, & M. Schratz (Hrsg.), Wissen erwerben, Kompetenzen entwickeln. Modelle zur kompetenzorientierten Lehrerbildung (S. 71–86). Münster u. a.: Waxmann.

Hattie, J. (2013). Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider.

Helmke, A., Helmke, T., Lenske, G., Pham, G., Praetorius, A.-K., Schrader, F.-W., & Ade-Thurow, M. (2014). Unterrichtsdiagnostik mit EMU. In M. Ade-Thurow, W. Bos, A. Helmke, T. Helmke, N. Hovenga, M. Lebens, D. Leutner, G. Pham, A.-K. Praetorius, F.-W. Schrader, C. Spoden, & J. Wirth (Hrsg.), Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte im Hinblick auf Verbesserung der Diagnosefähigkeit, Umgang mit Heterogenität und individuelle Förderung (S. 149–163). Münster: Waxmann.

Ingenkamp, K., & Lissmann, U. (2008). Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik. Weinheim.

Rammstedt, B. (Hrsg.). (2012). Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich – Ergebnisse von PIAAC 2012. Münster: Waxmann.

Schneider, W., & Hasselhorn, M. (Hrsg.). (2008). Handbuch der Psychologie, Bd. 10. Handbuch der pädagogischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe.

Strauch, A., Jütten, S., & Mania, E. (2009). Kompetenzerfassung in der Weiterbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann.

Vogt, K. (2011). Pädagogische Diagnostik – Potentiale entdecken und fördern. bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 11, 1–9. Abgerufen von www.bwpat.de/ht2011/ft11/vogt_ft11-ht2011.pdf


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