Lernvoraussetzungen von Teilnehmenden
Es gilt, sie zu identifizieren und zu entwickeln
Nicht jede und jeder ist gerne und erfolgreich zur Schule gegangen. Und immer wieder haben wir es in der Erwachsenenbildung mit Teilnehmenden zu tun, denen das Lernen in formalen Zusammenhängen – im Kurs, im Seminar, in der Qualifizierung – schwer fällt. Dazu gehören vielfach geringqualifizierte Teilnehmende. Grund genug, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Lernvoraussetzungen der Erwachsenen identifiziert werden können und wie in der Bildungsarbeit an individuellen Voraussetzungen angesetzt werden kann.
DefinitionWas ist das?
Lernvoraussetzungen verdeutlichen, was die Lernenden bereits können, welche Kompetenzen sie zum Kurs bereits mitbringen und welche weiteren Bedingungen ihr Lernen ggf. mit beeinflussen. Es zeugt von Qualität, wenn vor Beginn eines Kurses, einer neuen Lernphase oder eines neuen Themas aber auch im fortlaufenden Lehr-/Lernprozess Kursleitende die Lernvoraussetzungen ihrer Teilnehmenden identifizieren:
- Was bringen die Teilnehmenden mit, um das zu verstehen, was im Kurs gelernt werden soll?
- Was haben sie bereits gelernt und können es im Kurs nutzen?
- Wie sind die Umfeld-Bedingungen, die ihr Lernen mit beeinflussen?
Man unterscheidet zwischen „individuellen“ und „umfeldbezogenen“ Lernvoraussetzungen.
Zu den individuellen Lernvoraussetzungen gehört all das, was Teilnehmende an Kenntnissen und Fertigkeiten, an Einstellungen, Denkmustern und Motiven, aber auch an Verhaltensstrategien in eine Lehr-/Lernsituation mitbringen (Tab. 1).
GeschichteWoher kommt das?
Bereits im 19. Jahrhundert forderten Pädagogen der Jenaer Seminarschule die Erhebung und Berücksichtigung von Lernvoraussetzungen als wesentliches Kriterium für den Unterrichtserfolg. Im Fokus lagen zunächst begriffliche Voraussetzungen rund um den Lerngegenstand, die später um Fragen zu Gefühlen, Motivation und Sozialverhalten erweitert wurden (vgl. Hartmann 1913, S. 60 f).
Die Entwicklungspsychologie mit Piaget im 20. Jh. trug wesentlich dazu bei, das Kind in seiner Individualität als Akteur seiner eigenen Entwicklung zu betrachten (vgl. J. Piaget (1978). Den individuellen Voraussetzungen wurde also ein besonderes Augenmerk geschenkt.
MerkmaleWie geht das?
Der pädagogische Umgang mit den Lernvoraussetzungen der Teilnehmenden erfolgt in mehreren Schritten: Es geht erstens darum, sie zu identifizieren, zweitens darum, sie zu verstehen, und schließlich drittens darum, sie in der Planung und in der individuellen Gestaltung des Lehr-Lernprozesses zu berücksichtigen.
Am Beispiel der nachfolgenden, an die Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten angepassten Fragen zur Analyse von Lernvoraussetzungen sind Möglichkeiten des pädagogischen Umgangs exemplarisch konkretisiert (vgl. Meyer 2014, S. 141).
- Welche inhaltlichen Vorkenntnisse und themenbezogenen Erfahrungen bringen die Lernenden mit?
Diese Vorkenntnisse können mit kurzen schriftlichen Fragebögen erhoben werden, aber auch mit Einstiegsfragen wie: „Hatten Sie damit schon etwas zu tun? Wann, wobei, wo?“ Denkbar ist auch eine Direktansprache von Teilnehmenden, wenn Sie als Kursleitung wissen, dass er oder sie etwas beitragen kann: „Herr X, Sie haben ja ... Ist Ihnen ... begegnet?“ Um Vorkenntnisse zu identifizieren, ist auch die Methode des Brainstormings geeignet. Die Ergebnisse können Kursleitende für die didaktische Planung nutzen, z. B. für die Entwicklung und den Einsatz von auf unterschiedliches Vorwissen zielende Arbeitsmaterialien und für Formen der Binnendifferenzierung im Lehr-/Lerngeschehen nutzen. - Welche sozialen, welche soziokulturellen und interkulturellen Voraussetzungen bringen sie mit?
Um diese Voraussetzungen zu identifizieren, eignen sich Fragestellungen und Methoden, mit deren Hilfe Sichtweisen und Denkmuster transparent und diskutierbar werden. Geht es um Sprachfähigkeit, mag Verständnis des Kursleiters angebracht sein, wenn ein Teilnehmender mit schriftsprachlichen Schwächen im Lrnehr-/Lerngeschehen nicht öffentlich schreiben möchte. Gar nicht so selten wirken finanzielle Probleme von Teilnehmenden als kritische Voraussetzung. Kursleitende sind dann im Verstehen gefragt, aber auch darin, z.B. für die Möglichkeit einer Schuldnerberatung Sorge zu tragen. - Welches Arbeits- und Sozialverhalten liegt vor?
Will man im Lehr-Lerngeschehen etwas über die Konzentration, die Verstehens- und Merkfähigkeit wissen, so ist Beobachten angesagt. Teilnehmende, die es nicht gewohnt sind, lange zu sitzen, lange zuzuhören, zu lesen oder überhaupt sich auf ein Thema zu konzentrieren, zeigen dies im Lehr-Lerngeschehen. Kursleitende tun dann gut daran, für Pausen und für Bewegung zu sorgen, aber auch Methoden und Instrumente zur Stärkung der Merkfähigkeit zu nutzen (z.B. Lernkarteien). - Welche Interessen bringen sie zum Kurs oder Thema mit?
Nach Interessen kann man vor dem Kurs und im Kurs fragen. Das kann schriftlich oder mündlich erfolgen, mehr strukturiert oder als Zurufverfahren. Interessen von Teilnehmenden müssen in jedem Falle von der Kursleitung festgehalten und in der Planung des Lehr-/Lernprozesses berücksichtigt werden. Es hat sich bewährt, wenn Kursleitende verdeutlichen, in welcher Weise und wenn möglich auch wann diese Interessen im Kurs ihren Raum haben. - Welche Haltungen, Erfahrungen und Verhaltensweisen im Lernen bringen die Teilnehmenden mit?
Dazu empfiehlt es sich, mit lernbiografischen Übungen in der Lerngruppe oder im Beratungsgespräch etwas über die Lernvergangenheit der Teilnehmenden, über ihre Lernvorlieben, aber auch über ihre Ängste in Erfahrung zu bringen. Die individuelle Lern- und Arbeitsbiografie gibt Aufschluss darüber, an welche positiven Erfahrungen angeknüpft werden kann. - Sind die für die von der Kursleitung geplante Arbeitsweise nötigen Lernkompetenzen vorhanden? Müssen ggf. neue Lernformen oder -techniken eingeführt werden?
Es reicht nicht aus, die Lernenden in ihren Lernvorlieben und -gewohnheiten zu verstehen und daran Anschlüsse zu suchen. Lernthema und Methode sollen passend und das Lehr-/Lerngeschehen nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch abwechslungsreich sein. Gerade bei Lernenden, die kaum Erfahrung mit formalem Lernen haben, ist es deshalb notwendig, sich zu vergewissern, ob die Lernenden das geplante Vorgehen kennen, und ggf. eine gute Erklärung für das Vorgehen parat zu haben und Fallstricken vorzubeugen.
HandlungsfelderWo brauche ich das?
Anders als im Schulunterricht gibt es in der Erwachsenenbildung und damit auch in der Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten keine Standards, die die Lernenden in einer bestimmten Klasse erreicht haben sollten.
Es ist hilfreich, als Lehrender bereits im Vorfeld Annahmen zu bilden, welche Lernvoraussetzungen bei den erwarteten Teilnehmenden vorhanden sein könnten. Diese Annahmen können auf Angaben beruhen, die mit der Anmeldung zum Kurs erhoben wurden oder sich auf die Zielgruppe des Kurses beziehen. Diese Annahmen erleichtern vor Beginn eines Kurses die Planung von Lerninhalten und sie lenken ggf. bereits die Auswahl von Methoden, um die Balance zwischen Über- und Unterforderung auszuloten und Lernerfolge bei Teilnehmenden zu ermöglichen.
In den Anfangssituationen sollten die Lernenden Gelegenheiten erhalten, zu zeigen, was sie in Bezug auf den Lerngegenstand wissen und können, aber auch, was sie darüber hinausgehend auszeichnet. Gerade für Lernende mit geringem Selbstvertrauen in ihre Lernleistungskompetenzen ist es wichtig, als Person mit dem, was sie an Können, Wissen, Erfahrung und Stärken auszeichnet, von der Kursleitung angenommen zu werden. Die Erfahrung zeigt, dass damit eine gute, vertrauenserweckende Voraussetzung geschaffen werden kann, auf deren Grundlage in der Folge auch für das Lernen kritische Voraussetzungen an- und ausgesprochen werden können.
DiskussionWas wird diskutiert?
Mit den Entwicklungen in Gesellschaft und Arbeit – sei es der Wandel von der Industrie- in die Wissensgesellschaft oder die Digitalisierung – werden neue Lernstrategien eine wachsende Bedeutung zugeschrieben. Im Fokus aktueller Fachdebatten sind die metakognitiven Lernstrategien von Lernenden: „Metakognitive Lernstrategien können
- auf die Planung von Lernschritten,
- die Prüfung des erreichten Lernfortschrittes anhand der formulierten Lernziele durch aktive Selbstüberwachungstätigkeiten ("self-monitoring"), oder
- die flexible Ausrichtung des eigenen Lernverhaltens am Ergebnis dieser Vergleiche ausgerichtet sein“
(Arnold, Krämer-Stürzl & Siebert, 2005, S. 52ff.).
Es wird davon ausgegangen, dass diese Bestandteile metakognitiver Lernstrategien Lernende dazu befähigen, ihren Lernprozess weitestgehend selbst zu steuern. Lernprozesse sollen also mehr auf selbstgesteuertes Lernen ausrichten und damit auf die Selbstregulationskompetenz des Lernenden. Lernende sollen befähigt werden, ihr Lernen zu planen, den Lernerfolg zu überprüfen und zu korrigieren (vgl. Korneli, 2008, S. 16ff.).
Das didaktisches Vorgehen ist an dem übergreifenden Ziel der Entwicklung metakognitiver Kompetenzen auszurichten, um Lernenden gesellschaftliche Teilhabe und Bewältigung der sich verändernden Anforderungen, insbesondere im Erwerbsleben, zu ermöglichen. In diesem Sinne kommt den Lernvoraussetzungen eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen gilt es, die Selbstregulationskompetenz als Lernvoraussetzung zu fördern, zum anderen dafür bereits vorhandene Fähigkeiten zu heben und zu nutzen.
Die Hirnforschung bestätigt die Bedeutung, individuelle Lernvoraussetzungen der Teilnehmenden zu beachten. So finden sich Verweise darauf, dass effektiver gelernt werde, wenn die Anschlussfähigkeit an vorhandene neuronale Muster gewährleistet ist und die individuellen Talente und Fähigkeiten angesprochen werden (vgl. M. Arnold, 2009, S. 189f.).
Internationale BezügeWie sieht man das woanders?
Im deutschsprachigen Südtirol in Italien wägen Kursleitende in der Bildungsarbeit mit Geringqualifizierten sehr genau ab, wann Verfahren zum Erfassen von Vorkenntnissen, Lernvoraussetzungen, individuellen Stärken unter didaktischen Zielsetzungen oder inwiefern eher Verfahren des Empowerments zum Aufschließen und Ermutigen für Lernen angesagt sind. Gute Erfahrungen liegen vor mit einem Empowerment durch das Fördern von metakognitiven Lernstrategien. Wenn die Lernenden merken, dass sie über metakognitive Kompetenzen verfügen, und erleben, wie sinnvoll es sein kann, diese für eine gute Planung des Lernprozesses zu nutzen, entsteht das, was ganz entscheidend ist: Sie gewinnen an Selbstvertrauen und Selbstsicherheit.
Verwandte Begriffe
Kompetenzen, Talente, Lernbarrieren, Lernerfolg
Zur Reflexion
Sie werden demnächst ein Bildungsangebot für Geringqualifizierte starten. Das Konzept beschreibt grob die Ziele und wie die Lernprozesse didaktisch und organisatorisch gestaltet werden. Sie haben aber als Lehrkraft noch keinerlei Vorstellung darüber, was die Teilnehmenden an Lernvoraussetzungen mitbringen und welche Ziele für sie realistisch sein könnten.
- Bitte beschreiben Sie einige Annahmen zu den von Ihnen vermuteten Lernvoraussetzungen.
- Wie werden Sie die Lernvoraussetzungen ermitteln? Welche zu ermitteln sind Ihnen warum wichtig?
- Wie werden Sie sie berücksichtigen?
- An welchen Stellen wird für Sie deutlich, dass Sie sich an den Kompetenzen, den förderlichen Lernvoraussetzungen der Lernenden orientieren und nicht an ihren Defiziten?
Literaturliste
Arnold, R., Krämer-Stürzel A. & Siebert, H. (2005): Dozentenleitfaden. Planung und Unterrichtsvorbereitung in Fortbildung und Erwachsenenbildung. Berlin: Cornelsen
Explizit auf Erwachsenenbildung zielende und nutzenorientierte Literatur zum Thema Lernvoraussetzungen’sind nicht auffindbar. Umso erfreulicher, dass das Thema in diesem Dozentenleitfaden mitbehandelt wird. Insbesondere in den ersten beiden Teilen greifen die Ausführungen Kursleitenden in der Erwachsenenbildung durch praxisnahe Kapitel, handliche Tipps und Arbeitsvorschläge zur Vorbereitung und Durchführung von Bildungsangeboten unter die Arme.
Arnold, M. (2009). Brain-Based Learning and Teaching. In: Herrmann, U. (2009). Neurodidaktik (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Arnold, R. (2015). Wie man lehrt, ohne zu belehren (3. Auflage). Heidelberg : Carl Auer.
Arnold, R., Krämer-Stürzel A. & Siebert, H. (2005). Dozentenleitfaden. Planung und Unterrichtsvorbereitung in Fortbildung und Erwachsenenbildung. Berlin: Cornelsen.
Hartmann, B. (1913). Die Analyse des kindlichen Gedankenkreises als die naturgemäße Grundlage des ersten Schulunterrichts. Frankfurt-Leipzig
Korneli, P. (2008). Selbstlernkompetenz durch Metakognition. Abgerufen von https://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-20163/Diss_Korneli.pdf
Meyer, Hilbert (2014). Leitfaden Unterrichtsvorbereitung (7. Aufl.). Berlin: Cornelsen-Scriptor.
Piaget, Jean (1992). Das Weltbild des Kindes. München: dtv.
Stangl, W. (1997): Metakognitive Lernstrategien. Abgerufen vonhttp://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/LERNTECHNIKORD/LERNSTRATEGIEN/meta.html
Winther, E. & Achtenhagen, F. (2008). Personale traits und selbstregulative states zur Beschreibung von Unterrichtsprozessen. In: Unterrichtswissenschaft, 36, (3), 255-280.