Erfahrungsbericht

Digital Leader: Netzwerk schlägt Hierarchie

Was macht einen Digital Leader aus? Was sind die neuen Anforderungen? Dazu konnten wir die beiden Autorinnen Christiane Brandes-Visbeck und Ines Gensinger befragen. Nicht mehr Bosse oder „Chefs aus der Hölle“ sind gefragt, sondern sozial kompetente Führungskräfte, die eine Brücke zwischen Hierarchie und Netzwerkorganisation bauen. Sind dies realistische Erwartungen an die Wandlungsbereitschaft von Ellbogen-Vorgesetzten, die nicht etwa durch Teilen sondern durch Taktikspielchen alle Sprossen der Schornstein-Karrieren erklommen haben?

Mann im Anzug hinter einem gezeichneten Netz zwischen Kreisen. Klickt  mit dem Zeigefingern einen an.

wb-web: Christiane, du schreibst viel über Digital Leadership –
seit wann und durch welche Auslöser beschäftigt dich dieses Thema und was macht deiner Meinung nach einen guten Digital Leader aus?

Ich wurde mit nur zwei Jahren Berufserfahrung Chefredakteurin eines jungen TV-Magazins. Nicht nur, weil ich so toll war, sondern weil niemand mit mehr Berufserfahrung den Job haben wollte. Die Gefahr, dass das Projekt floppen würde, war einfach zu groß. Ein vergleichsweise kleines Budget, befristete Projektverträge mit mäßiger Bezahlung sowie ein digitales Schnittgerät, das kaum einer bedienen konnte, machten den Job für risiko-averse und verwöhnte Fernsehschaffende nicht gerade attraktiv. Wir, die wir uns dennoch dafür entschieden haben, sahen dieses Setting als Chance uns als Newcomer zu bewähren und mit neuen Technologien experimentieren zu können.

Soft Skills wichtiger als Kenntnisse

Das Projekt haben wir nur deshalb so super hinbekommen, weil ich schon damals mehr auf Soft Skills und Persönlichkeitsmerkmale geachtet habe als auf Kenntnisse und Fähigkeiten. Weil wir Neues ausprobiert haben, gab es kein richtig oder falsch – Fehler machen und daraus lernen war ein wichtiges Thema in unserer Teamkultur. Als Chefin habe ich mehr orchestriert als vorgegeben, da ich ja auch nicht besser als alle anderen wissen konnte, was funktioniert. Ich war Motor, Mentor, Inspirator, habe meinem Team viel Raum gegeben, dafür aber auch erwartet, dass die Mitarbeiter Verantwortung übernehmen und das gemeinsame Projektinteresse über den persönlichen Vorteil stellen. Dies sind aus meiner Sicht auch die wichtigsten Eigenschaften eines Digital Leaders: innovativ, disruptiv, sozial kompetent, mutig in der Führung und entschlossen zu sein; die Veränderungsdynamiken, die diese digitale Revolution mit sich bringt, zu verstehen und für einen nachhaltigen Erfolg zu nutzen.

wb-web: Was würdest du in einem kurzen Resümee über deine Erfahrungen aus den aktuellen Interviews mit verschiedenen Führungskräften berichten? Hast du auch argumentativen Gegenwind erfahren oder hast du dich ganz bewusst nur auf die Führungskräfte fokussiert, die schon auf „dem richtigen Weg“ sind?

Ja, ich habe mich bewusst auf Führungskräfte konzentriert, die Vorbilder sein können. Das hängt mit meiner Überzeugung zusammen, dass Menschen gern von anderen lernen, wenn sie eine Person schätzen oder gar bewundern. Stärken zu stärken ist viel sinnvoller als immer nach Fehlern oder Schwächen zu suchen. Letzteres müssen Controller leisten, klar, das ist ihr Job. Aber Menschen mit Leadership-Qualitäten sind anderen Menschen zugewandt, geben Vorschusslorbeeren, sind offen für Anregungen und Eigeninitiative und halten es auch aus, wenn man ihnen respektvoll widerspricht.

Einstellung entscheidend

Ich habe sehr unterschiedliche Führungskräfte aus ganz verschiedenen Branchen, ganz bewusst auch Männer und Frauen interviewt, die sich zum Teil auch gar nicht selbst als Digital Leader wahrgenommen haben. Aber sie alle haben diese fünf genannten Eigenschaften. Sie wollen Erfolg für sich und ihre Unternehmen, wissen aber, dass dieser sich nur einstellen wird, wenn sie die Mitarbeiter auf eine gemeinsame Zukunftsvision einschwören können. Sie sind alle menschenzuwandte Persönlichkeiten, die wissen, dass es sich nicht auszahlt, Mitarbeiter zu manipulieren oder auszutricksen. Wer seine Ziele offen legt, auch mal einen Fehler zugibt, wer glaubwürdig, verlässlich und entschlossen agiert, hat in der digitalen Transformation Erfolg – egal, auf welcher Hierarchiestufe er oder sie sich gerade befindet.

wb-web: Als Führungskraft offen sein zu können und Fehler zuzugeben, scheint aber ja nach wie vor die Ausnahme zu sein. Was würdest du daher den Führungskräften empfehlen, die sich mit diesem Wandel noch schwer tun, aber langfristig Veränderungen wollen? Deren Unternehmern jedoch noch tief in traditionellen Hierarchien stecken?

Grundsätzlich kann jeder Digital Leadership lernen, wenn er oder sie es nur will. Es ist für diese Menschen wichtig zu wissen, dass sie nicht allein sind auf ihrer Lernreise und es eine gute Idee ist, die Mitarbeiter und Kollegen einzuladen, gemeinsam die persönlichen und organisatorischen Transformationen anzugehen. Die größte Schwelle ist der erste Schritt, den hierarchischen Sicherheitsabstand nach „unten“ aufzugeben und sich auf Augenhöhe zu begeben. Wer sich das noch nicht traut, kann ja erstmal einen privaten Social Media Account anlegen und diesen beruflich nutzen.

wb-web: Was ist dein Tipp für Arbeitnehmer/innen, die ihre Führungskraft für dieses Thema sensibilisieren wollen?

An der Privathochschule FOM lehre ich in einem berufsbegleitenden Master-Studiengang Leadership. Nach ein paar Vorlesungen über New Work und Agile bzw. Digital Leadership fragen die Studierenden immer, wie sie das Gelernte im Job umsetzen und ihre Chefs von moderner Führung in Zeiten der digitalen Transformation überzeugen können. Mein Tipp ist immer, erst einmal herauszufinden, ob die digitale Transformation in der Chefetage ein Thema ist. Wenn ja, können Mitarbeiter ihre (Mittel-)Chefs fragen, ob sie ein Projekt dazu anschieben können.

wb-web: Gerade neu bei der Arbeit und gleich mit diesen Wünschen auftreten? Funktioniert denn so die Arbeitswelt überhaupt?

Als erstes wäre es schon ausreichend, mit einem Zweistunden-Workshop über Werte und Teamkommunikation („Wie wollen wir miteinander arbeiten?“) oder über Social Selling („LinkedIn statt Cold Calls“) oder eben über Moderne Führung zu beginnen. Die Studierenden stoßen fast immer auf offene Ohren, denn, hey, wenn mir mein Mitarbeiter mit hilft, meinen Job besser zu machen und nach oben gut dazustehen, dann gut dazustehen, dann passt das doch auch gut ins alte System.

wb-web: Würdest du sagen, dass diese Art der Veränderung von zeitgemäßer Führung in jedem Unternehmen in Deutschland Anklang finden wird? Und welche Anforderungen müssen deiner Meinung nach für eine erfolgreiche Umsetzung gegeben sein?

Ich bin mir da unsicher. Leider zeigen Größen wie Steve Jobs und in Teilen auch Elon Musk, dass man nicht unbedingt zeitgemäß führen muss, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein.

wb-web: In der Tat begegnen wir bei unserer Arbeit diesem Argument gegen zu viel Mitarbeiterbeteiligung immer wieder. Wie kann man den scheinbaren Widerspruch auflösen?

Wenn es einmal läuft und der „Fame“ da ist, kann man sich als Chef über lange Zeit viel herausnehmen, ohne dass sich Mitarbeiter sofort beschweren. Doch immer, wenn der Erfolg sich noch nicht eingestellt hat, wenn eine Abteilung von der Schließung bedroht ist oder ein Unternehmen in Richtung Insolvenz schlittert, sollten sich Chefs unbedingt an diesen Führungsstil erinnern. Denn in schwierigen Situationen folgen Menschen anderen nur, wenn der Leader vertrauenswürdig ist und davon überzeugt, dass es sich lohnt, die schwierige Route zu nehmen. Ich hatte nach meinem TV-Job ja noch einige leitendende Positionen inne – meist waren es wieder Stellen, die als zu schwierig oder wenig erfolgversprechend galten –, und habe mit diesem Leadership Style immer unsere Ziele erreicht. Es ist zwar anstrengend, aber auch absolut „awesome“.

Umsetzung in kleinen und mittleren Unternehmen

wb-web: Haben kleine und mittlere Unternehmen (KMU) es deiner Meinung nach leichter oder schwerer als die großen Konzerne?

Oh, das liegt an der jeweiligen Unternehmenskultur. Wenn der Inhaber eines KMU die genannten Leadership-Werte lebt, kann das mit der digitalen Transformation sehr gut funktionieren, besser vielleicht als in einem Konzern. In allen Organisationsformen ist es wichtig, dass die neue Kultur auch tatsächlich gelebt wird. Nur weil ein CEO davon redet, dass Fehler okay sind und Lounge-Bereiche wichtig, damit Mitarbeiter inspiriert werden für die nächste innovative Idee, heißt das noch lange nicht, dass das der Abteilungsleiter auch so sieht. Wenn Mitarbeiter wegen einer Fehlentscheidung abgemahnt werden oder nicht auch „kreativ rumhängen“ dürfen, dann wird das nichts mit der unternehmensweiten digitalen Transformation.

wb-web: Kannst du uns sagen, auf welcher digitalen Entwicklungsstufe sich deutsche KMU im Vergleich zu internationalen Wettbewerbern befinden?

Dazu gibt es kaum Studien. Vielleicht liegt es daran, dass jeder „digitalen Reifegrad“ anders definiert. Geht es beispielsweise darum, dass eine Website responsiv ist und der Kunden ein Produkt ohne Mühe mit dem Smartphone kaufen kann? Oder geht es um den Einsatz von Robotern in der Pflege, um Bots, die FAQ beantworten, oder um VA-Produkte, die medizinische Operationen erleichtern? Ich denke, dass wir Deutsche sehr gründlich sind und prüfen, ob sich dieser große digitale Transformationsaufwand lohnt. Wenn diese Frage erst einmal bejaht wird, dann werden auch Anreize gesetzt, wie man diese Veränderungsdynamiken beschleunigen kann. In meinen Augen sind wir mit dem immer lauter werdenden Ruf nach einer Quote für mehr Frauen in Führung, mit Experimenten für flexiblere Arbeitsabläufe oder der Abschaffung von Einzelboni auf einem guten Weg.

wb-web: Was würdest du Geschäftsführungen von deutschen KMUs mit auf den Weg geben wollen?

Geschäftsführer sollten sich wieder daran gewöhnen, dass sie Vorbilder sind. Wenn sie Menschen gut behandeln, offen sind für Neues, wenn sie Zeit finden, um sich – auch über Social Media – mit Menschen auszutauschen, die einen anderen Hintergrund haben als sie selbst, wenn sie intern die Vernetzung von interdisziplinären Teams befördern und Hierarchie als eine Organisationsform leben, die kein Hindernis darstellt für Neues, sind sie auf einem guten Weg. Und wenn sie diese persönlichen Learnings vielleicht in einem Jahresfazit auf einem Unternehmensblog oder in einem Karrierenetzwerk veröffentlichen würden, dann wären sie ganz weit vorne. Nicht umsonst heißt es in der digitalen Welt: „Sharing Is Caring“.

CC BY SA 4.0 international by Christiane Brandes-Visbeck/Zukunft der Arbeit


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