Was ist das Wichtigste, was man bei der Alphabetisierung von erwachsenen Geflüchteten wissen muss? Evelyn Sarbo, Fortbildnerin für DaZ-Lehrkräfte im Bereich Alphabetisierung für das Bildungswerk der Erzdiözese Köln e.V., fasst ihre Erfahrungen zusammen.
Können Sie sich folgende Situation vorstellen? Sie besuchen in einem fremden Land, dessen Sprache und Schrift Sie nicht beherrschen, ein Restaurant und möchten etwas zu essen bestellen. Wenn die Speisekarte nicht bebildert ist oder Sie nicht die Möglichkeit haben, in die Kochtöpfe zu sehen, werden Sie diese Situation ohne Hilfe und Unterstützung kaum bewerkstelligen können. So ergeht es Zuwanderern mit Alphabetisierungsbedarf bei vielen Anforderungen des täglichen Lebens.
In meinen Workshops für Sprachlehrkräfte versuche ich, die Unterrichtenden durch Selbsterfahrungsübungen in einer ihnen unbekannten Schrift für diese besondere Situation zu sensibilisieren und oft machen sich bei ihnen schon nach kurzer Zeit Konzentrationsschwäche, große Anstrengung und manchmal auch Entmutigung bemerkbar. Wir haben meist kaum Erinnerungen an unseren eigenen Alphabetisierungsprozess oder den unserer Kinder. Die Situation, uns selbst nicht in Wort und Schrift mitteilen zu können, stellt somit auch uns Lehrkräfte vor eine ganz besondere Herausforderung. Im Rahmen der Schulungen und meiner persönlichen langjährigen Unterrichtserfahrung haben sich folgende Hauptanforderungen im Alphabetisierungsunterricht herauskristallisiert:
Einschätzung der Schriftsprachkompetenzen
Da alphabetisierte und nicht-alphabetisierte Lernende nach Möglichkeit in getrennten Gruppen unterrichtet werden sollten, ist eine Einschätzung der Vorerfahrungen wichtig, um ein geeignetes Kursprofil für die einzelnen Teilnehmenden ermitteln zu können.
Sollten Sie keine Vorinformationen zu den Fertigkeiten der Kursteilnehmenden haben, können Sie auf die Seiten 5 bis 7 der „Handreichung für die Gestaltung von Deutschkursen mit Flüchtlingen“ des Bildungswerks der Erzdiözese Köln e.V. zurückgreifen. Hier wird eine einfach durchzuführende und praxisgerechte Anleitung zur Ermittlung von Teilnehmerniveaus beschrieben. Es wird auch auf den Unterschied zwischen Analphabeten, die in ihrer Muttersprache nicht oder nur wenig lesen und schreiben können, und Zweitschriftlernenden, die in ihrer Muttersprache bereits alphabetisiert sind, eingegangen. Da letztere bereits mehrjährige Lernerfahrungen mitbringen, erfolgt ihr Schriftspracherwerb deutlich schneller und auch sie sollten nach Möglichkeit getrennt von Nicht-Alphabetisierten unterrichtet werden.
Besonderheiten des Anfangsunterrichts
Da die Erstalphabetisierung, insbesondere in einer fremden Sprache, ein sehr langwieriger Prozess ist, sollte sie Hand in Hand mit der Sprachvermittlung erfolgen. Es gilt „Sprechen vor Schreiben“, das Training kommunikativer Inhalte sollte also immer Vorrang haben. Wie auch in den Deutsch-Einstiegskursen sollte Grammatik implizit, „nebenbei“ vermittelt werden und nur einen sehr kleinen Teil der Sprachvermittlung ausmachen. Die gängigsten Phänomene, die für den täglichen Sprachgebrauch benötigt werden, können in festen Wendungen, sogenannten „Chunks“, präsentiert werden, ohne die zugrundeliegenden grammatischen Regeln näher erläutern zu müssen (z.B.: „Wie heißen Sie/Wie ist Ihr Name?“, „Ich heiße.../Mein Name ist...“).
Flüchtlingskurse sind oft die ersten Lernangebote in der neuen Sprache und bereiten auf einen späteren Integrationskurs vor, in dem Grammatik expliziter vermittelt wird. Zu Anfang ist es vor allem wichtig, Hemmungen abzubauen, mögliche ungünstige Erfahrungen aus früheren Schulbesuchen zu entschärfen und positive erste Lernerfahrungen zu ermöglichen. Personen, die nie oder kaum eine Schule besuchen konnten, verfügen in der Regel auch nicht über grundlegende Fertigkeiten wie Stift- und Heftführung oder Kenntnisse von Übungsstrukturen und Lerntechniken. Erst durch häufige Wiederholungen dieser Strukturen erlangen sie langsam Sicherheit im Umgang damit und sind zu weiteren Schritten imstande. Für die Bewältigung dieser Aufgaben sind für uns Lehrkräfte Einfühlungsvermögen, kreativer Umgang mit unterschiedlichen Lern- und Verständnisproblemen und viel Geduld ebenso wichtig wie die Berücksichtigung einiger Grundlagen des Alphabetisierungsunterrichts (z.B. die Nennung von Buchstabenlauten, nicht deren Namen: „b“ – nicht „be“, „k“ – nicht „ka“, „m“ – nicht „em“). Da es leider nicht viele Weiterbildungsangebote im Bereich Alphabetisierung gibt, können diese Grundlagenkenntnisse oft erst in der Praxis erworben werden.
Einsatz von Unterrichtsmaterialien
Kein Lehrwerk ist perfekt und alleine einsetzbar, aber es bietet einen „roten Faden“ für Ihre Unterrichtsplanung. Zwar gibt es mittlerweile ein größeres Angebot auf dem Markt und im Internet als noch vor einigen Jahren, aber nach wie vor müssen Unterrichtsmaterialien individuell auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden abgestimmt, zusammengestellt und durch selbst erstellte Materialien ergänzt werden. Dies erfordert eine intensive Vorbereitungszeit. Mit der Zeit verfügt man über ein Repertoire an Materialien, auf das man dann auch spontan teilnehmerorientiert zurückgreifen kann, was die Arbeit deutlich erleichtert. Bei der Auswahl der Materialien sollten Sie berücksichtigen, dass Lerner mit authentischen, d.h. den Lebensalltag betreffenden Materialien viel eher erreicht werden können, vor allem wenn sie handlungsorientiert eingesetzt werden. Zahlreiche Anregungen für Spiel- und Übungsvariationen oder zur Gestaltung von individuellen Arbeitsblättern können Sie im Internet finden, vielleicht müssen Sie diese aber für Ihre Kursteilnehmenden abwandeln.
Setzen Sie in Ihrem Unterricht viele Bilder, Gestik und Pantomime ein oder zeichnen Sie, um sich verständlich zu machen. Sie sprechen dadurch verschiedene Lernkanäle an und Ihre Kursteilnehmer werden sich vielleicht auch bald dieser Methoden bedienen.
Vergessen Sie auch nicht, genügend Pausen und Unterrichtsphasen einzuplanen, die eine Abwechslung zu den Konzentrationsphasen bieten (z.B. Lockerungsübungen um Verspannungen vorzubeugen, wie Schulterkreisen, Ausschütteln der Arme und Hände etc., Spiele ...). 'Atempausen' sind wichtig, um lernungewohnte Teilnehmende nicht durch Überforderung zu demotivieren, da ihr Konzentrationsvermögen anfangs meist schnell nachlässt.
Herausforderung Binnendifferenzierung
Eine besondere Herausforderung beim Unterrichten von mehreren Teilnehmenden ist die Binnendifferenzierung, also die Anpassung von Übungsangeboten und Arbeitsmaterialien an die unterschiedlichen Kenntnisstände der Teilnehmenden. Dafür werden Arbeitsblätter abgewandelt oder Übungen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden angeboten. Da dies einige Lehrerfahrung voraussetzt, ist Binnendifferenzierung für Lehrkräfte mit geringer Unterrichtserfahrung anfangs nur schwer umzusetzen. Sehr hilfreich ist der Einsatz von mehreren Lehrkräften, um die einzelnen Lernendengruppen individueller betreuen zu können.
Rahmenbedingungen der Kurse
Gerade Flüchtlingskurse laufen oft unter erschwerten räumlichen oder organisatorischen Bedingungen ab. Im günstigsten Fall können Sie die Verantwortlichen auf mögliche Missstände aufmerksam machen, um die Situation zu verbessern. Die Fluktuation von Kursteilnehmenden können Sie jedoch meist nicht beeinflussen und müssen sich immer wieder möglichst flexibel auf neue Lernende und ihre individuellen Bedürfnisse einstellen. In Alphabetisierungskursen sind Lernerfolge oft nur sehr kleinschrittig, und es gibt viele vermeintliche „Rückschläge“, was für den Lernprozess völlig normal und nicht auf Ihr Unvermögen zurückzuführen ist. Wenn Sie es schaffen, in solch schwierigen Situationen nicht aufzugeben und auch kleinste Fortschritte positiv zu bewerten, können Sie durch die oft sehr persönlichen Rückmeldungen und die Verbundenheit der Kursteilnehmer eine besondere Wertschätzung Ihrer Bemühungen erfahren.
CC BY SA 3.0 DE by Evelyn Sarbo für wb-web.de