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Herausforderung Alphabetisierung - was ist gut zu wissen?

Das Bild zeigt Angelika Hrubesch.

Angelika Hrubesch ist ausgebildete Deutsch als Zweitsprache-Lehrerin, seit 2010 Leiterin des AlfaZentrums für MigrantInnen der Wiener Volkshochschulen und des Ausbildungslehrganges Alphabetisierung für MigrantInnen.

Ein Interview mit Angelika Hrubesch, Leiterin des AlfaZentrums für MigrantInnen der Wiener Volkshochschulen, über die Schwierigkeiten beim Erlernen einer ersten Schriftsprache und Empfehlungen, wie man in der Sprachbegleitung damit umgeht.

wb-web: Wie lange dauert es, Lesen und Schreiben zu lernen? 

Hrubesch: Die Vorstellung „26 Buchstaben lernen, dann ist man alphabetisiert“ ist ein Trugschluss. Der Prozess dauert lange. Es gibt keine einheitlichen Aussagen über die Dauer. Kinder beginnen im Alter von zwei Jahren ein Buch richtig aufzuschlagen. Mit circa zehn Jahren können sie orthografisch einigermaßen korrekt schreiben. Unsere Erfahrungen aus dem AlfaZentrum mit Jugendlichen ohne Erstsprachen-Erfahrung ist, dass sie nach drei Kursjahren mit je 20 Wochenstunden soweit Lesen und Schreiben gelernt haben, dass sie danach in einen weiterführenden Kurs für einen ersten Schulabschluss einsteigen können. Ohne Erstsprachen-Erfahrung bedeutet, dass diese Teilnehmenden noch nie Lesen oder Schreiben gelernt haben. Natürlich geht das bei Erwachsenen schneller, aber es dauert doch relativ lange, länger als Fördergeber, Lehrende oder auch die Teilnehmenden selbst erwarten. 

wb-web:  Was sind die Herausforderungen für Menschen, die noch nie geschrieben haben?

Hrubesch: Wenn Menschen noch nie Schreiben gelernt haben, muss erst ein phonologisches Bewusstsein erworben werden, z.B: das Bewusstsein darüber, wo sich der Laut I bei Tisch befindet: am Anfang, in der Mitte oder am Ende. Dieses Wissen ist nicht einfach vorhanden, es muss trainiert werden. Es ist eine hohe Konzentration nötig, um einen Wortschwall zu segmentieren und einzelne Worte heraushören zu können, und danach, innerhalb der Worte, Silben und Buchstaben zu identifizieren. Das braucht Übung und kann nicht übersprungen werden. Und auch motorische Fähigkeiten, wie z.B. den Stift halten und schreiben, brauchen Routine.

 

wb-web: Könntest du einen typischen Alphabetisierungsprozess beschreiben? 

Hrubesch: Es existieren einige Erwerbsmodelle. Es gibt meines Wissens keine Erwerbsmodelle für Erwachsene, nur für Kinder, die im Rahmen der Legasthenie und Lernschwächenforschung entwickelt wurden. Wir arbeiten mit dem Modell von Uta Frith, die drei Phasen beschreibt. Es gibt dazu eine Erweiterung und auch andere Modelle.  Für Sprachbegleitende können diese Phasen insoweit hilfreich sein, als sie das Verstehen der einzelnen Schritte bis zum Schrifterwerb erleichtern:

  1.  Logografische Phase, in der Logos oder Piktogramme erkannt werden, in denen Dreidimensionales in Zweidimensionalem dargestellt wird. Es werden Wortbilder als Logos erkannt, z.B. können Kinder sehr oft TAXI oder BILLA  lesen. Aber jedes andere Wort, das auch ein X in der Mitte hat, würde auch als Taxi identifiziert werden z.B. Hexe. Oder der eigene Name: Kinder können in der ersten Klasse der Grundschule ihren eigenen Namen erkennen und auch schreiben, dabei wenden Sie aber auch die logografische Strategie an. Das Kind erkennt den Namen, kann aber nicht die einzelnen Buchstaben darin benennen.
  2.  Alphabetische Strategie oder Phase bedeutet zu Wissen, dass hinter jedem Laut ein Buchstaben steht. Das stimmt zwar im Deutschen nicht immer, ist aber das Grundprinzip. Auch wir wenden diese Strategie noch bei unbekannten Wörtern an.
  3.  Orthografische Phase: Das Erkennen, dass das „ein Laut = ein Buchstabe – Prinzip“ nicht immer eingehalten wird, sondern man auch noch orthografische Regeln beachten muss.


wb-web: Was empfiehlst du ehrenamtlichen Sprachbegleitenden, wenn sie bemerken, dass die ihnen anvertrauten Personen nicht alphabetisiert sind?

Hrubesch: Legen Sie das Hauptaugenmerk auf das Sprechen und Hören. Gerade das Hören ist besonders wichtig für die Alphabetisierung. Und schreiben Sie nichts auf, das macht es für die Nicht-Alphabetisierten nur komplizierter. Bauen Sie parallel einen Sichtwortschatz auf. Gerade in der ehrenamtlichen Sprachbegleitung kann man gut einen individuellen Wortschatz von 30-40 wichtigen Worten aufbauen, die wieder erkannt und geschrieben werden können. Das wird in den Materialien, die es gibt, vernachlässigt. Natürlich muss es sich um Worte handeln, die man zuvor besprochen hat.

 

wb-web: Hast du eine Empfehlung für die Wortauswahl dieses Sichtwortschatzes?

Hrubesch: Die sollten wirklich individuell angepasst werden. Zum Beispiel gehen die meisten meiner Teilnehmerinnen nicht auf Deutsch einkaufen, deswegen wären Worte zum Thema Einkaufen nicht so sinnvoll. Im Asylkontext wäre wahrscheinlich das Asylverfahren ein Thema, in größeren Lagern sind Lebensmittel vielleicht doch wichtig oder Hygieneartikel oder Worte zu Gesundheit und Krankheit, um einmal einige Ideen zu geben. .

 

wb-web: An welche besonderen Erlebnisse aus den Basisbildungskursen erinnerst du dich?

Hrubesch: Was mir in Erinnerung bleibt, sind besondere Kurssituationen, bei denen mir bewusst wurde, vor welchen Herausforderungen Menschen, die Lesen und Schreiben lernen, stehen. Z. B. wie oft ihnen der Bleistift abbricht. Oder zu bemerken, wie oft und wie selbstverständlich ich Schrift verwende und erst im zweiten Schritt bemerke, dass ich damit die Situation nicht erleichtere sondern verkompliziere, z.B. wenn ich in einer Vorstellrunde meinen Namen auf die Tafel schreibe. Oder die Kurstage auf die Tafel schreibe.

Besonders schön sind natürlich Erfolgserlebnisse – wenn Teilnehmende einen Pflichtschulabschluss machen und diesen auch schaffen, was aber – ehrlicherweise  –  eher selten der Fall ist. Oder auch zu bemerken, wie die Menschen selbständiger werden: Sie können die eigene Post öffnen, den Brief zwar noch nicht lesen, aber erkennen, dass er an sie adressiert ist. Dabei reden wir natürlich insbesondere von Primär-Analphabeten.

 

wb-web: Gibt es Unterschiede in der Alphabetisierungsdebatte in Deutschland und in Österreich?

Hrubesch:  Der Begriff Alphabetisierung wird in Österreich und in Deutschland unterschiedlich angewandt. In Österreich reden wir zunehmend von Basisbildung, in Deutschland von Grundbildung.. Das hat einerseits mit dem Fördertopf zu tun, aus dem diese finanziert wird, andererseits auch damit, dass der Begriff zu eng gefasst ist. Auch weil Alphabetisierung  mit mechanischer Buchstaben-, Silben- und Satzkenntnis verbunden wird. Aber das ist viel zu eng gefasst. Auch wendet sich die Basisbildung sowohl an Migranten und Migrantinnen als auch an Personen mit Deutsch als Erstsprache. In Deutschland richten sich die Alphabetisierungskurse großteils an Migrantinnen und Migranten, weil die meisten Kurse im Integrationskontext finanziert sind.


wb-web: Gibt es auch eine Ausbildung zum Thema Alphabetisierung?

Hrubesch: Es gibt verschiedene Ausbildungen. In Österreich wird der Lehrgang  Alphabetisierung/Basisbildung , am AlfaZentrum der VHS Wien   anbieten,  berufsbegleitend durchgeführt. Er dauert 12 Wochenenden verteilt auf drei 3 Semester und beinhaltet auch eine Praktikumsphase. Auch für Ehrenamtliche ist eine Teilnahme möglich.Aber es gibt auch noch weitere Angebote. In Deutschland gibt es meines Wissens keine ähnliche Ausbildung. Es gibt Ausbildungen, die vom Bundesverband für Alphabetisierung angeboten werden und Angebote im Kontext der Integrationskurse.


wb-web: Gibt es Zahlen zu der Anzahl von Analphabetinnen und Analfphabeten im deutschsprachigen Raum?

Hrubesch: Gutes Zahlenmaterial gibt es wenig. Es gibt die PISA-Studie oder für Erwachsene die PIAAC-Studie, die von der OECD gemacht wird. Dort werden die Lesekompetenz, Rechnen und Problemlösekompetenz im Kontext von IKT erhoben.

Aber das Zahlenmaterial ist recht ungenau, weil es in Österreich ca. 100.000 Personen gibt, die nicht teilnehmen konnten, weil sie entweder nicht lesen konnten oder die Sprache nicht konnten. Der Test wurde nur in vier Sprachen (Deutsch, Englisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch) angeboten. Ein zweites Problem: Die Zahl der Migranten und Migrantinnen mit Alphabetisierungsbedarf ist unbekannt.

Vor einigen Jahren habe ich versucht, die Teilnehmendenstruktur aus unseren Alphabetisierungskursen mit der weltweiten Alphabetisierungstatistik zu vergleichen. Die Struktur war ähnlich: Analphabetismus ist nicht eindeutig zuordenbar – er ist weder weiblich noch  jugendlich oder ….

 

wb-web: Herzlichen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Angelika Güttl-Strahlhofer.

CC BY SA 3.0 DE by Angelika Güttl-Strahlhofer für wb-web.de


Weiterführende Literatur zum Thema, die Angelika Hrubesch empfiehlt:

Feick, D. et al (2013). Alphabetisierung für Erwachsene. Fort- und Weiterbildung Deutsch als Zweitsprache. Langenscheidt (DLL 15).

Feldmeier, A. (2010). Von A bis Z. Praxishandbuch Alphabetisierung Deutsch als Zweitsprache für Erwachsene. Klett.