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Reality Check: Alphabetisierungsarbeit wird wichtiger

Buchstaben aus Holz.

Buchstaben (Mr. Cup , Fabien Barral / Unsplash, CC0)

Die Initiativen DAMF Dresden, die SchlaU-Werkstatt für Migrationspädagogik München, das Katholische Bildungswerk Köln und das Caritas Bildungszentrum Wien geben Rückmeldung zum aktuellen Stand des großen Themas „Alphabetisierung“ aus der Perspektive ihrer Einrichtung.

 wb-web: Wie hoch ist der Alphabetisierungsbedarf? Welche Entwicklung sehen Sie?

 „Der Bedarf an Alphabetisierungsangeboten steigt. Aktuell sind über ein Drittel unserer Deutschkurse für Geflüchtete Alphabetisierungs- bzw. Zweitschriftlernenden-Kurse“, berichtet Andrea Lauer, pädagogische Mitarbeiterin des Katholischen Bildungswerks Köln. 

 „Bei DAMF beträgt der Anteil der Alphabetisierungskurse etwa zwei Drittel von der Gesamtanzahl der Kurse, Tendenz steigend“, informiert Rico Ehren, Mitbegründer, Sprecher und Arbeitskreisleiter der Dresdner Initiative DAMF (Deutsch Asyl Migration Flucht). Es seien zwar in den letzten eineinhalb Jahren staatliche Kursstrukturen massiv ausgebaut worden, davon wären aber nur manche explizite Alphabetisierungskurse.

An der SchlaU-Schule in München wird in zwei von zwanzig Klassen alphabetisiert. Anja Kittlitz, Leiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der SchlaU-Werkstatt für Migrationspädagogik, sieht großen Bedarf im gesamten Bildungsbereich: „Alphabetisierung ist der Bereich, der insgesamt in allen Organisationen der am meisten zu entwickelnde Bereich ist – sofern eine Einrichtung sich nicht explizit mit dem Thema beschäftigt. Jugendliche mit Alphabetisierungsbedarf können als eine der am meisten marginalisierten Gruppen in der Bildungslandschaft beschrieben werden, da sich die Angebote für sie in Grenzen halten oder gar nicht erst vorhanden sind. Oft werden die Jugendlichen in laufende Sprachkurse oder Sprachlernklassen integriert, erfahren dort aber nicht die notwendigen Förderung, was zum Abbau der Motivation bis hin zur Resignation führt. Dies liegt zum einen an der oft fehlenden Qualifikation der Lehrkräfte und zum anderen an den besonderen Bedarfen der Jugendlichen, die sich nicht genuin mit denen von bereits alphabetisierten SprachlernerInnen decken.“

Hingegen starten im Caritas Bildungszentrum in Wien die Freiwilligenkurse für AsylwerberInnen meistens erst auf A1 Niveau, nach Auskunft von Freiwilligenkoordinatorin Gudrun Schlosser. Alphabetisierungskurse  werden dort nur im Ausnahmefall durchgeführt, nicht in der Regel.

 

wb-web: Welche Art von Alphabetisierungsbedarf unterscheiden Sie?

Das Katholische Bildungswerk versucht, möglichst homogene Kursgruppen zu bilden, basierend auf einem eigens entwickelten Einstufungsverfahren, in dem nach Schulbildung, Sprachstand und Alphabetisierungsgrad unterschieden wird (Einige Tipps zur Einstufung sind nachzulesen in der Sprachanker-Handreichung S.5ff).

Ähnlich geht DAMF vor. Rico Ehren schildert den Einstufungsprozess:
„Den Einstufungstest haben wir von DAMF selbst entworfen. Es ist ein komplexer Test mit verschiedenen Anforderungsbereichen. Systematisch werden die Kompetenzen Lesen, Schreiben und Sprechen getestet. Der Test wird immer im Paar realisiert: Ein Tester und ein Schüler, also eins zu eins im Einzelgespräch. Dabei ist der Test so angelegt, dass nicht alle Testteile ausgeführt werden müssen - nach dem Motto: Hat man diese Aufgabe gelöst, dann weiter mit dieser. Falls nicht, dann mit jener. Es werden circa 10 Minuten für eine/ Lerner/in benötigt. In der Auswertung des Tests entscheiden wir, welchem Kurs mit welchem Niveau die Teilnehmenden zugeteilt werden.“

Im anschließenden Lernangebot orientiert man sich an der Lehrwerkreihe „Schritte plus Alpha“ des Hueber-Verlags und bietet dementsprechende Alphabetisierungskurse an.

„An der SchlaU-Schule gibt es derzeit eine Alphabetisierungsklasse und eine so genannte Teilalpha-Klasse“, so Anja Kittlitz, zur Frage nach der Einstufung. „In letzterer werden Schülerinnen und Schüler unterrichtet, die in Grundzügen schon alphabetisiert sind, aber noch wesentlichen Bedarf an Alphabetisierungsunterstützung besteht. Der Alphabetisierungsbedarf wird in einem Erstgespräch und nicht mit einem bestehenden Test ermittelt. Außerdem zeigt er sich im Lauf der ersten Unterrichtsstunden. Mit einfachen grafomotorischen Übungen ermitteln die Lehrkräfte beispielsweise Umgangsweisen mit dem Stift. In ersten Schreibübungen zeigen sich weitere Kompetenzen. Wesentlich ist auch, dass mündliche und schriftliche Kompetenzen sich voneinander unterscheiden können. Die SchülerInnen müssen in beiden Bereichen adäquat abgeholt werden und sich in beiden Bereichen entwickeln können. Hilfreiche Unterstützung bieten bei Bedarf die Selbsteinschätzungsbögen von Sven Nickel und Team.

 

wb-web: Wie werden Ehrenamtliche auf Alphabetisierungsaufgaben vorbereitet?

 Das Katholische Bildungswerk Köln bietet gemeinsam mit anderen Trägern in der Veranstaltungsreihe „Engagiert für Flüchtlinge in Köln" mehrmals pro Jahr einen ganztägigen Workshop für Ehrenamtliche zur Alphabetisierung an (siehe Erfahrungsbericht Evelyn Sarbo). „Viele Ehrenamtliche, die Sprachkurse durchführen, haben mehrere oder auch einzelne Teilnehmende mit Alphabetisierungsbedarf in ihren Kursen und stoßen gerade in diesem Bereich an Grenzen. Diese Workshops sind daher der Renner unter unseren Fortbildungsangeboten. Die Ehrenamtlichen, die Unterrichtserfahrung als Lehrerinnen und Lehrer in Grundschulen und Förderschulen mitbringen, sind hingegen oft überrascht, dass sie sehr viel ihrer Kenntnisse übertragen können, angepasst auf Erwachsene“, berichtet Andrea Lauer.

Bei DAMF werden die ehrenamtlichen Sprachbegleiterinnen und Sprachbegleiter im Rahmen einer Einführungsveranstaltung und durch fakultative Weiterbildungen hinsichtlich des Themas Alphabetisierung sensibilisiert.

Die Organisation SchlaU, zu der auch die SchlaU-Werkstatt für Migrationspädagogik gehört, ging bei der Unterstützung ehrenamtlicher Sprachbegleiter über die eigenen Organisationsgrenzen hinaus einen Schritt weiter. Das seit dem Jahr 2000 rund um die SchlaU-Schule angesammelte Erfahrungswissen zum Thema Alphabetisierung wurde in einem kompakten Ordner gebündelt. Der Inhalt wird allen, denen das Wissen nützen könnte, zur Verfügung zu gestellt, die ersten 5000 Exemplare wurden sogar kostenlos in den gesamten deutschsprachigen Raum versandt. Die Ordner waren im Dezember 2016 innerhalb von drei Tagen – anstatt der erwarteten drei Monate – restlos vergriffen. Anja Kittlitz: "Der SchlaU-Lernordner: Deutsch als Zweitsprache – Alphabetisierung für Jugendliche und junge Erwachsene“ wird von vielen Ehrenamtlichen und Lehrkräften deutschlandweit eingesetzt. Er unterstützt damit sowohl die Arbeit in institutionellen Alphabetisierungsklassen als auch die Arbeit von ehrenamtlichen Sprachbegleiterinnen. Besonders gut angenommen wird die Ordnerform, da weiteres Material abgeheftet werden kann. Begrüßt wird auch, dass die Themen zielgruppennah sind und der Ordner im Vergleich zu anderen Alphabetisierungswerken umfangreiches Übungsmaterial enthält und damit eine langsame Progression verfolgt. Denn das Wichtigste an der Alphabetisierungsarbeit ist: Sie braucht Zeit!“

 

wb-web: Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf?

 Andrea Lauer vom Katholischen Bildungswerk sieht Entwicklungsbedarf in der Kommunikation mit den Menschen, die noch nicht lateinisch alphabetisiert sind. „Schriftliche Einladungen zu Kursen verfehlen beispielsweise ihr Ziel.“

Bei DAMF sieht man neben dem grundsätzlich erhöhten Bedarf auch die Notwendigkeit einer stärkeren Differenzierung des Alpha-Kursangebots sowie eines zusätzlichen Angebots für funktionale Analphabetinnen und -beten der lateinischen Schrift in Form von Lese- und Schreibtraining sowie Nachhilfe.

Gudrun Schlosser ergänzt dazu aus dem österreichischen Blickwinkel: „Basisbildung ist ein sehr wichtigen Bereich, der noch intensiver gefördert werden sollte und dem auch viel mehr Zeit eingeräumt werden sollte. Eine fundierte, dem Tempo angemessene Basisbildung ermöglicht erst einen – auch über die höheren Stufen hinaus – guten Sprachfortschritt. Viele kämpfen mit zu wenig fundierten Basisbildungskenntnissen und kommen deshalb schriftlich (aber auch mündlich, wenn in der Muttersprache auch kaum Basisbildung vorhanden ist) kaum oder nur in sehr beschränktem Ausmaß vorwärts.“

 Gut Ding braucht Weile

Rico Ehren meint abschließend: „Auch in den Alphabetisierungskursen sollte man sich der großen Heterogenität der Lernenden und des immensen Bedarfs an individueller Hilfestellung bewusst sein. Wichtig ist hierbei Geduld.“ Anja Kittlitz: „Gute und nachhaltige Alphabetisierung hört nicht mit dem Besuch eines Alphabetisierungskurses auf. Notwendig ist eine langfristige Begleitung und Förderung von beispielsweise grafomotorischen Kompetenzen auch im weiterführenden Sprachlernunterricht.“ 

Über „Reality Check“

Im Rahmen des Projekts „Sprachbegleitung einfach machen!“ haben sich untenstehende Kooperationspartner bereit erklärt, begleitend zu den jeweiligen Themen des Dossiers ad hoc und mit wenigen Sätzen auf E-Mail-Fragen zu reagieren, um die Stimme der aktuellen Praxis einzubringen. 

Über DAMF (Deutschkurs Asyl Migration Flucht) Dresden 

 DAMF bietet in Dresden 30 Kurse mit 100 Ehrenamtlichen für 300 Lernende (Jahresbeginn 2017). Die Initiative DAMF arbeitet ihrem Verständnis nach auf ihre eigene Abschaffung hin: Wir wünschen uns einen Zustand, in dem staatliche Kurse die Deutschvermittlung für Geflüchtete übernehmen und wir nur noch für flankierende Angebote benötigt werden (= Mentoring, Nachhilfe). Rico Ehren ist Lehramtsstudent, ehrenamtlicher Sprachbegleiter und Ansprechpartner der Arbeitsgruppe Didaktik.

  Über die Deutschkurse im Caritas Bildungszentrum Wien

 Im CarBiz Wien werden seit gut zehn Jahren Freiwilligendeutschkurse für Geflüchtete angeboten. Aktuell laufen 13 Kurse von A1-B1 mit 18 fixen ehrenamtlichen Kursleitenden für ca. 130 Deutschlernende. Gudrun Schlosser schätzt als Freiwilligenkoordinatorin insbesondere die Stabilität der KursleiterInnengruppe und sieht darin einen wesentlichen Qualitätsfaktor. Mehr zu Caritas und den vielfältigen Unterstützungsaktivitäten für Geflüchtete finden Sie hier

Über das Katholische Bildungswerk Köln

  Das Katholische Bildungswerk bietet in Kooperation mit verschiedenen Trägern ein umfangreiches Fortbildungsprogramm für Ehrenamtliche der Flüchtlingsarbeit an. Speziell für ehrenamtliche und nicht einschlägig für „Deutsch als Zweitsprache“ ausgebildete Lehrkräfte hat das Bildungswerk der Erzdiözese Köln e.V. als Dachverband das Qualifizierungsangebot „Sprachanker“ entwickelt. Es besteht aus einem 18-stündigen Kurs und wird durch eine Handreichung für die Gestaltung von Deutschkursen mit Flüchtlingen ergänzt. Das Katholische Bildungswerk führt im Kölner Stadtgebiet neben Integrationskursen rund 40 Deutschkurse für Geflüchtete durch, die keinen Zugang zu Integrationskursen haben. Diese Kurse umfassen die Alphabetisierung und die Levels A1 bis B1. Andrea Lauer ist pädagogische Mitarbeiterin des Katholischen Bildungswerks Köln und Autorin der Handreichung.

Über die SchlaU-Werkstatt für Migrationspädagogik München

 Die SchlaU-Werkstatt für Migrationspädagogik ist ein Institut für Schulentwicklung, Forschung, Lehrmaterial und Weiterbildung. Entstanden aus der 16-jährigen Bildungspraxis der SchlaU-Schule, arbeitet sie unter dem Dach des Trägerkreises Junge Flüchtlinge e. V. im engen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis an aktuellen pädagogischen und gesellschaftskritischen Fragestellungen, mit dem Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit für junge geflüchtete Personen zu schaffen und Zugangsbarrieren abzubauen. Anja Kittlitz ist Leiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin.

 


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