Erfahrungsbericht
Unser Gehirn, Spiegelneuronen und die Rekonstruktion von Wirklichkeiten
Aus neurobiologischer Sicht ist unser Nervensystem selbstreferenziell, aber – auch darauf verweist Gerhard Roth (1987, S. 260) – ebenfalls strukturell gekoppelt.
„Plastische selbstreferenzielle Systeme wie das menschliche Gehirn, die sich bei jeder Interaktion mit der Umwelt ändern, sind aus diesen Gründen prinzipiell nicht steuerbar“ (ebd., S. 274).
Unsere Gedanken sind selbsttätig und individuell. Unsere Gedächtnisse erinnern unterschiedliche Erfahrungen, Kenntnisse, Beispiele, auch Gegenargumente, Widerstände. Das Nervensystem löst sich gelegentlich von dem Thema und dem Vortrag und assoziiert eigene Bilder und Gedanken.
Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gehirnforschung in Frankfurt, Wolf Singer, beschreibt diese Gehirntätigkeit als „inneren Monolog“, der nur wenige Informationen aus einem Vortrag zur Kenntnis nimmt, aber 90 Prozent der Neuronen auf eigenständige Daten, Fakten, Bilder bezieht.
Francisco Varela beschreibt die menschliche Kognition aus konstruktivistischer Sicht:
„Der Grundgedanke besteht also darin, dass kognitive Fähigkeiten untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten sind wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozess des Geschehens erst entsteht“ (1990, S. 111).
Im Normalfall nehmen wir – wie ein Nürnberger Trichter – nur einen geringen Prozentsatz des Wissens aus dem Vortrag oder einem Text wahr. Diese Informationsreduktion wird in unserem Kopf oft durch eine Vielfalt von Ergänzungen, Erinnerungen Beispielen, Einwänden „angereichert“.
Für die Praxis bedeutet das:
Wahrgenommen und interpretiert wird vor allem das Wissen,
- das anschlussfähig ist,
- das an biografische Erfahrungen erinnert,
- das auf momentane und zukünftige Lebenssituationen und Lebensverhältnisse verweist.
Wir verfügen über bewusstes, aber auch über automatisiertes intuitives Wissen. So ist unsere Reaktion als Autofahrer in kritischen Situationen meist spontan und intuitiv. Unsere Kompetenzen sind also großenteils „verinnerlicht“ und situativ verwendbar.
Unsere Erfahrungen und unsere Lernbiografie hinterlassen zahlreiche „Spuren“, die uns ständig – teils unbewusst – beeinflussen.
In der Gehirnforschung wird von „Neuroplastizität“ gesprochen. Dieser Begriff beinhaltet die Struktur der Nervenzellen, aber auch deren Veränderungen. „Die meisten Synapsen befinden sich nicht direkt am Zellkörper, sondern an baumartigen Verzweigungen des Neurons, den sogenannten Dendriten. Lernen ist in neurobiologischer Hinsicht die Veränderung der Stärke von Verbindungen zwischen Nervenzellen“ (Spitzer 2010, S. 51). Aufgrund dieser Verknüpfungen entstehen „neuronale Repräsentationen“, die z.B. die Aufmerksamkeit an anschlussfähiges Wissen in einem Seminar oder Vortrag stabilisieren.
Die Erwachsenen kommen in ein Seminar mit einem „biografischen Gepäck“, also mit bestimmten Vorkenntnissen, Deutungsmusstern, Erwartungen, Interessen. Die Kursleitung ist herausgefordert, sich auf diese Erwartungen einzulassen. Es ist größtenteils ein Anschlusslernen; die Hirnforscher sprechen hier von einem „inneren Monolog“, 90 Prozent des Lernens bestehen aus eigenen Erinnerungen, Beispielen, Wertungen, und nur ein geringer Teil ist die direkte Wahrnehmung der Wissensvermittlung. Also gehört dazu, dass man zu Beginn eines Seminars die Teilnehmenden dazu befragt, welche Wünsche sie haben, welche Interessen und ebenso am Ende, was war wichtig?
Ein Mindmap könnte hier hilfreich sein. Oder Lerntagebücher, die man in seinen Seminaren von Teilnehmenden schreiben lassen kann.
2. Spiegelneuronen
Die Gehirnforschung hat Spiegelneuronen festgestellt, die zwischenmenschliche Interaktionen zum Teil unbewusst bewirken.
Joachim Bauer, Mediziner und Psychotherapeut, hat 2005 ein Buch mit dem Titel „Warum ich fühle, was du fühlst“ zum Thema Spiegelneuronen geschrieben.
Bauer bezeichnet viele unserer neurobiologischen Reaktionen als Resonanzphänomene des Alltags: „Warum ist Lachen ansteckend? Warum gähnen wir, wenn andere gähnen? Warum nehmen Gesprächspartner unwillkürlich eine ähnliche Sitzhaltung ein wie ihr Gegenüber?“ (2005, S. 7).
Solche Resonanzphänomene beeinflussen auch politische Diskussionen, berufliche Führungskräfte, Lehr-Lernsituationen und Krankenhausaufenthalte. Mimik, Gestik, Blicke von anwesenden Personen provozieren bei uns oft emotionale, auch unbewusste Reaktionen. Ein solches Verhalten kann eine intuitive Empathie, aber auch eine Bedrohung bewirken.
Horst Siebert ist emeritierter Professor für Erwachsenenbildung an der Leibniz Universität Hannover. Er ist vom Niedersächsischen Bund mit einer Ehrennadel ausgezeichnet worden. Einer seiner Schwerpunkte ist die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus, der – ergänzt durch die aktuelle neurowissenschaftliche Gehirnforschung – eine Grundlage für das Lehren und Lernen Erwachsener anregt. Wer mehr über den Konstruktivismus und seine Relevanz für die Erwachsenenbildung lesen möchte, dem sei sein aktuelles Buch „Erwachsene – lernfähig aber unbelehrbar. Was der Konstruktivismus für die politische Bildung leistet“ empfohlen.
Zum Symposium Ermöglichungsdidaktik in Kaiserslautern erscheint beim Schneider Verlag die Publikation: „Ermöglichungsdidaktik: Offene Fragen und Wirkungen eines Lehr-Lern-Konzeptes” der Herausgeber Rolf Arnold, Thomas Prescher, Ingeborg Schüßler und Claudia Gómez Tutor.
Lesen Sie auch den zweiten Teil: Perturbation, Ermöglichungsdidaktik, und Achtsamkeit
Grundlagen und Praxisempfehlungen für die Erwachsenenbildung von Horst Siebert – Teil 2
Im zweiten Teil erklärt Horst Siebert warum Perturbation, die Ermöglichungsdidaktik und die Achtsamkeit essenziell sind für Lehrende in der Erwachsenenbildung. Einfach mal die Perspektive wechseln, die eigene Konstruktion der Wirklichkeit erweitern, wie kann das gelingen? Und warum ist Achtsamkeit eine Grundhaltung?
Lesen Sie auch den dritten Teil: Innere Bilder, Heiterkeit, Ermöglichung
Grundlagen und Praxisempfehlungen für die Erwachsenenbildung von Horst Siebert – Teil 3
Äußere Bilder haben in der menschlichen Geschichte eine lange Tradition, ein Grund mehr, dass man sich auch als Lehrender damit beschäftigen sollte. Dazu kommen Erkenntnisse der Hirnforschung über die Wichtigkeit „innerer Bilder“. Und vieles wäre ohne Heiterkeit nichts. Lesen Sie den dritten und letzten Teil des Textes von Horst Siebert.
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