Erfahrungsbericht
Innere Bilder, Heiterkeit, Ermöglichung
Grundlagen und Praxisempfehlungen für die Erwachsenenbildung von Horst Siebert – Teil 3
Äußere Bilder haben in der menschlichen Geschichte eine lange Tradition, ein Grund mehr, dass man sich auch als Lehrender damit beschäftigen sollte. Dazu kommen Erkenntnisse der Hirnforschung über die Wichtigkeit „innerer Bilder“. Und vieles wäre ohne Heiterkeit nichts. Lesen Sie den dritten und letzten Teil des Textes von Horst Siebert.
7. Innere Bilder
Unsere Wirklichkeit besteht aus „inneren Bildern“, aus Weltbildern und Menschenbildern, aus „Einbildungen“ und Weltanschauungen.
Der Neurobiologe Gerald Hüther verweist darauf, dass bereits mit der Geburt „innere Bilder“ angeeignet werden, die die späteren Konstrukte und Aufmerksamkeiten beeinflussen. „Es sind strukturgewordene Erfahrungen, also im Lauf des Lebens erworbene und im Gehirn verankerte Veranschaulichungsmuster zwischen den Nervenzellen“ (Hüther, 2011, S. 66f.).
Diese Muster bestehen aus „inneren Bildern“, die unser Weltbild und unser Selbstbild – also unser Denken, Fühlen und Handeln prägen.
Innere Bilder werden im Lauf des Lebens ergänzt, modifiziert, im Beruf und in der Familie erweitert. So gibt es auch gemeinsame soziokulturelle Bilder, die aufgrund von Erfahrungen verinnerlicht werden.
Rolf Arnold schreibt im „Wörterbuch Erwachsenenbildung“ zur „Ermöglichungsdidaktik“: „Professionelle Lehr-Lernarrangements können demnach individuelle Aneignung von Neuem sowie eine Weiterentwicklung von Kognition und Kompetenz ermöglichen, sie können aber nicht wie bei einer Trivialmaschine bestimmte Lernergebnisse erzeugen“ (2010, S. 80).
Zu einer zukunftsträchtigen Konstruktion von Wirklichkeit gehört – so Robert Musil – ein produktiver Möglichkeitssinn.
Musil plädiert für „coexistierende Möglichkeiten“, die schöpferisch und hoffnungsvoll sind.
Wir leben nicht nur in einer konservativen Welt, sondern wir verfügen auch über eine „Einbildungskraft“, über eine progressive Fantasie.
„Wer sich mit einer Wirklichkeit begnügt, die sich unter zufälligen Bedingungen gebildet hat, die vielwertige Möglichkeiten nicht wahrnimmt, verkürzt sich die Welt und verfehlt ihr Wesen“ (Baumann, 1981, S. 163).
Über einen produktiven Möglichkeitssinn verfügen nicht nur Literaten und Philosophen, sondern auch Naturwissenschaftler wie Niels Bohr, Werner Heisenberg, Albert Einstein.
Musil verweist darauf, dass die Grenzen der Wirklichkeit optimistische Möglichkeiten einschließen:
„Musil zeichnet den Conjunctivus potentialis aus, der unerschöpfliche Entdeckungs- und Erfindungslust verrät, Versuchsanordnungen eröffnet, Gedankengänge in das Unbetretene entwirft“ (Baumann, S. 169).
In dem bekannten Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ schreibt Musil ein Kapitel mit dem Titel „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“:
„So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlange bemerkenswert sein können (Musil, 1978, S. 16).
Oskar Negt, dessen Buch „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“ bereits in den 1960er Jahren ein Klassiker der politischen Erwachsenenbildung war, plädiert 2014 für eine Ermöglichungsdidaktik: Es geht nicht um eine reine Faktenvermittlung in der politischen Bildung, sondern er denkt darüber nach, „ob der Realitätssinn nicht viel stärker ersetzt werden müsste durch einen Möglichkeitssinn“. (zit. nach Straßer & Petter, 2015, S. 110).
Aus konstruktivistischer Sicht ersetzt ein solcher Möglichkeitssinn den traditionellen Weisheitsbegriff.
Für die Praxis bedeutet das:
Möglichkeitssinn: Offen sein für neue Zukunftsformen, Entwicklungen anderer Sichtweisen und Tätigkeiten. Das ist eine biografische Perspektive, und sie ist schwer umsetzbar in Seminaren, in denen es eher darum geht, etwas zu trainieren.
CC BY-SA 3.0 DE by Horst Siebert für wb-web
Horst Siebert ist emeritierter Professor für Erwachsenenbildung an der Leibniz Universität Hannover. Er ist vom Niedersächsischen Bund mit einer Ehrennadel ausgezeichnet worden. Einer seiner Schwerpunkte ist die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus, der – ergänzt durch die aktuelle neurowissenschaftliche Gehirnforschung – eine Grundlage für das Lehren und Lernen Erwachsener anregt. Wer mehr über den Konstruktivismus und seine Relevanz für die Erwachsenenbildung lesen möchte, dem sei sein aktuelles Buch „Erwachsene – lernfähig aber unbelehrbar. Was der Konstruktivismus für die politische Bildung leistet“ empfohlen.
Zum Symposium Ermöglichungsdidaktik in Kaiserslautern erscheint beim Schneider Verlag die Publikation: „Ermöglichungsdidaktik: Offene Fragen und Wirkungen eines Lehr-Lern-Konzeptes” der Herausgeber Rolf Arnold, Thomas Prescher, Ingeborg Schüßler und Claudia Gómez Tutor.
Lesen Sie auch den ersten Teil: Unser Gehirn, Spiegelneuronen und die Rekonstruktion von Wirklichkeiten
Grundlagen und Praxisempfehlungen für die Erwachsenenbildung von Horst Siebert – Teil 1
Heiterkeit, Achtsamkeit, Konstruktivismus – das sind nur einige Grundlagen für erwachsenenpädagogisches Wissen, die Horst Siebert empfiehlt. wb-web traf den emeritierten Professor der Erwachsenenbildung 2015 in Kaiserslautern auf dem Symposium Ermöglichungsdidaktik. Im Rahmen seines Vortrags über den Konstruktivismus in der Erwachsenenbildung referierte er über neun didaktische Thesen und Prinzipien. Welche Folgen haben diese Thesen für die Praxis der Erwachsenenbildung? Im Interview hat Horst Siebert seine ganz persönlichen praktischen Tipps und Erfahrungen zu jeder These ergänzt. Der Text erscheint in drei Teilen. Teil 1 dreht sich um das Gehirn, die Spiegelneuronen und die Rekonstruktion der Wirklichkeit.
Lesen Sie auch den zweiten Teil: Perturbation, Ermöglichungsdidaktik, und Achtsamkeit
Grundlagen und Praxisempfehlungen für die Erwachsenenbildung von Horst Siebert – Teil 2
Im zweiten Teil erklärt Horst Siebert warum Perturbation, die Ermöglichungsdidaktik und die Achtsamkeit essenziell sind für Lehrende in der Erwachsenenbildung. Einfach mal die Perspektive wechseln, die eigene Konstruktion der Wirklichkeit erweitern, wie kann das gelingen? Und warum ist Achtsamkeit eine Grundhaltung?
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