Sieht so das Lernen der Zukunft aus?
Jede und jeder kann gratis, von überall aus und zu beliebiger Zeit bei und mit den Besten der Welt studieren – mit dieser Verheißung sind die Massiven Offenen Online-Kurse (MOOCs) um das Jahr 2012 herum angetreten. Seitdem haben Erfolge und Pleiten deutlich gemacht, was von dieser Verheißung in der beruflichen Wirklichkeit bleibt. Jörn Loviscach ist Professor für Ingenieurmathematik und technische Informatik an der FH Bielefeld. Seine Forschungsinteressen liegen in der Mensch-Computer-Interaktion, in Techniken der Medienproduktion und in der computerunterstützten Lehre. Er ist Autor von 3.000 YouTube-Videos, hat 2012 einen der ersten MOOCs von Udacity geleitet und seitdem vier weitere MOOCs auf mooin veröffentlicht. Er schreibt hier über das Lernen mit MOOCs. Hier geht es zu Teil 1 des Blogbeitrags.
Hier geht es zu Teil 2 des Blogbeitrags.
Teil 3
Chancen für Berufstätige
Insgesamt stellt sich das Bild zwiespältig dar: MOOCs eröffnen im Prinzip jeder und jedem den Zugang zu je nach Thema höherer oder grundständiger Bildung. Ein anerkanntes Zertifikat darüber ist meist kostenpflichtig – wenn auch oft günstiger als bei traditionellen Anbietern. Betreuung und Beratung sind typischerweise ebenfalls zu bezahlen. Gute Englisch-Kenntnisse sind sehr hilfreich, eine perfekte Selbstorganisation ist Pflicht.
Vor dem Eintritt oder einem Wiedereintritt ins Berufsleben helfen MOOCs, wieder auf den aktuellen Stand eines Gebiets zu kommen oder sich neu zu orientieren. Arbeitgeber werden an Zertifikaten in der Bewerbungsmappe nicht nur die nachgewiesenen Kenntnisse schätzen, sondern zwischen den Zeilen auch die Ausdauer und Gewissenhaftigkeit lesen.
Zur Fort- oder Weiterbildung parallel zur Berufstätigkeit eignen sich MOOCs ebenso. Hier besteht vielleicht auch eine Chance, lokale Arbeitsgruppen von Gleichgesinnten zu bilden, mit denen man Kurse gemeinsam bearbeitet, möglichst mit Anrechnung auf die Arbeitszeit. Sehr große Unternehmen, aber vielleicht auch Unternehmensverbünde oder Gewerkschaften könnten eigene MOOCs anbieten, wie etwa Google, Microsoft und SAP das bereits tun.
Unklare Wirkungen auf die Arbeitswelt
Durch die niederschwellige Verfügbarkeit von MOOCs (im Vergleich zu den langatmigeren traditionellen Studiengängen) besteht allerdings die Gefahr, dass sich Bildungsbestrebungen verselbstständigen und aus dem Ruder laufen. Schon heute sammelt man Zertifikate, damit das Bewerbungsschreiben besser aussieht. Je mehr MOOC-Zertifikate man beilegen kann, desto mehr persönlichen Einsatz, Selbstorganisation, Sprachkenntnisse und Ähnliches belegt die Bewerbung in Form „teurer Signale“. Dies könnte in ein Wettrüsten ausarten, das die Einzelne und den Einzelnen viel Zeit und Geld kostet.
Die Wirkung von MOOCs auf die Gesellschaft ist derzeit zwar keinesfalls so dramatisch wie 2012 von vielen prognostiziert, dennoch passen die MOOCs in ein Bild einer virtualisierten und prekarisierten Arbeitswelt:
- Bildung und Ausbildung werden privatisiert, finden auf persönliche Kosten außerhalb der Arbeitszeit statt. Je mehr diese Möglichkeit genutzt wird, desto mehr wird sie zum faktischen Zwang, um einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu behalten. Die Hürde dazu war mit den bisherigen Angeboten deutlich höher.
- Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen in einem globalen und gesichtslosen Wettbewerb um die Spitzenplätze, die einen Job versprechen. Dabei geben sie bereitwillig Daten preis, zum Beispiel darüber, wie oft sie welche Frage falsch beantworten.
- Der Chef ist ein Algorithmus.
MOOCs sind hier ein weiterer Mosaikstein neben der digitalen Tageslohnarbeit in Form von Crowdworking (Arbeit wird in kleinen Stücken per Internet verteilt) und in Form der sogenannten „Sharing Economy“, wie sie sich etwa in der Vermittlung von Fahrerinnen und Fahrern durch Uber oder von Übernachtungsmöglichkeiten durch Airbnb zeigt (Süddeutsche Zeitung).
Statt „Tageslohn“ wäre im Internet vielleicht der Begriff „Minutenlohn“ treffender: Er bringt Flexibilität für Nutzerinnen und Nutzer, vielleicht auch für einige Anbieterinnen und Anbieter, aber destabilisiert die Gesellschaft heutiger Art. Auch die unsicheren Startups mit hypermotivierter Arbeit für die Unternehmensvision passen in dieses Bild (ideenwerkbw.de).
Und nicht nur die MOOCs können in Selbstausbeutung ausarten, mit der man die Aufmerksamkeit potenzieller Arbeitgeber auf sich ziehen will: Auf „Hackathons“ (fastcompany.com) – oft von Unternehmen ausgerichtet – wird Software unter Hochdruck über Tage und Nächte entwickelt. In Programmier-Wettbewerben (s. z.B. kaggle.com) kann sich jeder mit der Welt messen, aus Unternehmenssicht das perfekte Assessment-Center. Auch die Beiträge, die man (in seiner Freizeit?) zur Entwicklung von offener Software geleistet hat, sind inzwischen selbstverständlicher Teil der Bewerbung (z.B. bei vanhack.com).
Das Lernen der Zukunft
Hin und wieder werden Kinder oder Jugendliche aus Entwicklungsländern, die MOOCs mit Bravour absolviert haben, der Weltöffentlichkeit vorgeführt (Video vom 6ten Davos Philanthropic Roundtable "RevolutiOnline.edu - Online Education Changing the World"). Dennoch stellen MOOCs zumindest derzeit keinen Weg für die Breite dar: Die erste digitale Spaltung („digital divide“) besteht darin, dass viele Menschen keinen technisch ausreichenden Zugang zum Netz haben. Die zweite digitale Spaltung besteht darin, dass viele Menschen – trotz technischen Zugangs – das Netz nicht produktiv nutzen.
Für die Einzelne und den Einzelnen mit den richtigen Voraussetzungen sind MOOCs eine Chance. Allerdings muss man die Auswirkungen auf Arbeitswelt und Gesellschaft im Auge behalten. Dass MOOCs das formale Lernen mit einem Abschlusszertifikat betonen, wirkt seltsam, weil im Netz Materialien und Diskussionsformen zu Genüge bereitstehen – informell, ohne die Anmeldung zu Kursen. Warum sollten Arbeitgeber Bewerberinnen und Bewerber bevorzugen, die Kurse belegen, statt ohne einen vorgegebenen Kurs selbstständig zu lernen? Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Signalwirkung von MOOC-Zertifikaten ein Übergewicht gegenüber dem Inhaltlichen gewinnen kann.
Dieser Text erschien erstmals auf der Plattform denk-doch-mal.de.