Handlungsanleitung
Konflikte durch Übertragung und Projektionen
Bei Unsicherheit setzen Menschen besonders gern ein „Pokerface“ auf. So ist die Anfangssituation in einer Veranstaltung die Stunde der Fassade. Gleichzeitig sind Gefühle wie Neugier, Angst vor der Blamage oder Versagensängste in besonderem Maße aktiviert. Diese unterdrückten Gefühle und die Fremdheit sind ein Nährboden für Übertragungen. Wie Sie als Kursleitende damit umgehen können, schildert diese Handlungsanleitung.
Übertragungen beruhen auf Einstellungen zu Personen, mit denen früher ein emotionaler Konflikt oder Kontakt bestand. So erinnern z.B. Leitende oder Gruppenmitglieder einzelne Teilnehmende unbewusst an Personen aus früherer Zeit. Die Betroffenen übertragen die damals empfundenen Gefühle auf den aktuellen Kontext. Im Zusammenhang eines Seminarbeginns handelt es sich meist um Sympathie oder Antipathie. Die Teilnehmenden nehmen solche Gefühle nicht als Erinnerungen wahr, sondern als wirkliches Erleben im Kontakt zu einem anderen Menschen.
Weil Leitende im Mittelpunkt des Geschehens stehen, ziehen sie Übertragungen besonders intensiv auf sich. Da sie die Leitungsautorität in einer schulähnlichen Situation verkörpern, sind negative Übertragungen nicht unwahrscheinlich. Aber auch wenn der Seminarleitende kein traditionelles Lehrerbild verkörpert, kann er oder sie verunsichern und auf diese Weise Aggressionen wecken.
Projektionen
Emotionale Situationen mit Menschen, zu denen ein neuer Kontakt entsteht, fördern auch Projektionen – ein zu Beginn eines Seminars ebenfalls häufig auftretendes Phänomen. Auch hier laufen Leitende Gefahr, wegen ihrer exponierten Stellung zum Gegenstand von Projektionen zu werden. Projektionen entstehen, wenn Menschen Verhaltensweisen, die sie an sich selbst als unerträglich empfinden, abwehren und anderen Personen zuschreiben. Eigene Verhaltensweisen, die Teilnehmende ursprünglich vielleicht wütend machten, werden bei der Projektion bei sich selbst verharmlost, ignoriert und schließlich nicht mehr bemerkt. In bestimmten Konstellationen, wie einem Seminarbeginn, werden diese abgelehnten Verhaltensweisen und die dazugehörigen Gefühle dann an anderen Personen umso deutlicher bemerkt. Wer nicht wahrhaben will, dass er umständlich ist, könnte plötzlich im Rahmen einer gründlichen Erklärung der Kursleitung wahrnehmen, wie langweilig diese ist, und darüber enttäuscht sein oder sich ärgern. Jedoch sind nicht nur die Leitenden Projektionen ausgesetzt. Auch diejenigen Teilnehmenden, die sich in geringem Maße einbringen, eher angepasst und wenig authentisch und somit leicht verwechselbar wirken, bieten Projektionsfläche für die Gruppe.
Übertragungen und Projektionen bei Leitenden
Nicht nur die Teilnehmenden bilden Projektionen und Übertragungen aus. Wenn Leitende dies tun, kommen sie häufig zu einer unangemessen kritischen Einschätzung einzelner Gruppenmitglieder. Phantasien über Ablehnung, über eine bevorstehende verbale Attacke und ein mulmiges Gefühl gegenüber bestimmten Personen weisen auf mögliche Projektionen hin. Dann werden die eigenen verdrängten Ängste als Aggressionspotenzial des Gegenübers empfunden. Um sich bei solchen Gefühlen der Wahrscheinlichkeit einer Projektion bewusst zu werden, hilft es, den Kontakt mit dem vermeintlich finster blickenden Menschen zu suchen. Ein kleines zwangloses Pausengespräch über dieses und jenes, gedacht als Realitätsüberprüfung, kann schnell Entspannung schaffen.
Auszug aus dem Perspektive Praxis Band "Souverän Seminare leiten" von Wolf-Peter Szepansky, angepasst durch die wb-web Redaktion (11.04.2016), nicht unter freier Lizenz, letztmalig geprüft am 13.12.2023
Szepansky, W.-P. (2010). Souverän Seminare leiten. Bielefeld: W. Bertelsmann.