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Es gibt keinen störungsfreien Unterricht

Eine Lehrende aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache mit Erwachsenen plaudert aus dem Nähkästchen über ihre Erfahrungen mit Störungen in Lehr-Lernsituationen. Ihr Tipp zum Umgang mit Störungen: sich einlassen, tolerant und humorvoll sein, echtes Interesse zeigen und Beziehungsarbeit leisten.

Es gibt sie, die Tage, wo Unterricht sich wie ein Bienenstock anfühlt. Lerninhalte werden interessiert aufgenommen, die Teilnehmer sind motiviert und aktiv. Alle wirken zufrieden. Es wird gelacht. Spaß und Ernsthaftigkeit geben sich die Hand. Lernzuwächse sind sichtbar oder sogar Transferleistungen möglich. Am Ende bekomme ich ein „es war schön“ oder ein wärmendes, dankbares Lächeln. Ich freue mich, dass es rund gelaufen ist.

Doch sicherlich war es nicht durchgängig störungsfrei.

Eine der kleineren Störungen in sechs Jahren im Bereich Deutsch als Fremdsprache mit Erwachsenen, zum Teil mit Alphabetisierung, ist ein fehlender Stift – die Schwerwiegendste die zweier Männer, die sich körperlich miteinander auseinander setzten.

Da gibt es sie, die Einflüsse unserer medialen Welt – Handys klingeln. Im Glauben, das traditionelle pädagogische Belohnungssystem habe noch nicht ausgedient, sollten Zahlungen von zwanzig Cent pro Störung maßregeln und mit dem Ertrag ein kleines Fest finanziert werden. Mit linkischer Begeisterung füllte sich schnell die Dose mit reichlich Geld. Denn nicht alle Teilnehmer waren mit der Regel einverstanden.

Im Kursraum ist es gleichzeitig zu warm und zu kalt. Die Fenster stehen auf „Kipp“ und die Heizungen geben alles. Mein ökologisches Bewusstsein schreit auf.

Während Erkältungszeiten liegen Taschentücher als schnelle Hilfsmittel gegen triefende Nasen auf Tischen. Habe ich nicht schon als Schülerin gelernt, dass sie nicht in den Eimer, schon gar nicht auf den Tisch, sondern in die Toilette gehören?

Gerüche mischen sich unappetitlich. Kulis werden rhythmisch in nervösen Händen auf und zu gedrückt. Der Arzt vergibt seine Termine nur während der Unterrichtszeiten.  Auch der Kühlschrank muss geliefert, abgeholt, gekauft oder repariert werden während der Zeit der Anwesenheitspflicht.

Hintereinander aufgezählt, wirken die Störungen dramatisch. Aber sie gehören nun mal zum Alltagsgeschäft eines Pädagogen, so wie ein Händler Rechnungen schreiben muss. Da wo Menschen aufeinander treffen, entsteht Disharmonie, denn Bedürfnisse sind unterschiedlich. Mein eigener pädagogischer Zeigefinger ermahnt mich, souverän die Ruhe zu bewahren und das Lernziel im Visier zu behalten. Bloß nicht jammern, das ist zwar mal ganz schön, aber mit Kollegen in einen Kanon einzustimmen, ist doch zu viel und nicht hilfreich.

Schild mit Bitte nicht hupen und kein Parken in 2. Reihe

Psst! – versteht doch jeder!? (Bild: Melanie Rudolph/CC BY-SA-NC 3.0)

Nicht zu vergessen sind die Situationen, in denen ich störe. Ich komme zu spät, Kopien fehlen, ich erkläre zu schnell und zu viel und wundere mich über fragende Gesichter.

Wir führen Gespräche im Plenum. Darf man „Psst“ oder „Sch“ sagen, wenn Nebengespräche stören? Ich bin der Ansicht, dass ich mit den Lauten für Ruhe sorge, aber in arabischen Ländern ruft man mit ähnlichen Geräuschen Tiere herbei. Entsetzen und Entrüstung kann ich kaum mit meiner Entschuldigung bremsen, dass ich doch nicht meine, sie seien Hunde und Katzen.

Doch nicht nur ich weiß, dass gemeinsames Lernen Toleranz, Gelassenheit, Mitmenschlichkeit und Humor erfordert. Die Teilnehmer wissen und praktizieren es gleichermaßen. Sie sind in gleicher Weise Mitgestalter des Unterrichtsgeschehens.

Es klopft an der Tür. Sie geht auf und ein neuer Teilnehmer kommt in die Gruppe. Er braucht einen Platz, Stift und Papier und ist deutlich verunsichert. Die Teilnehmer bewältigen die Störung als kleine spannende Integrationsaufgabe.

Wer sich weswegen gestört fühlt, das ist subjektiv. So ertappe ich mich auch dabei, oft feste Vorstellungen zu haben, was stört oder eben nicht.

So sitze ich im Startloch einer neuen Arbeitsphase. Auf einmal werden mitgebrachte Süßigkeiten verteilt und genüsslich verzehrt. Denn die Enkelin wurde getauft, die Tochter ist nun schon 15 Jahre tot, der Sohn hat Geburtstag oder die Tochter ein besonders gutes Zeugnis. Papier wird zerknüllt, eingesammelt und als Kursleiterin bekomme ich liebevoll aufgetragen, die Reste allein zu essen. Letztlich höre ich den Ruf: „Seht, was in meinem Leben passiert. Habt Teil daran!“ Ich höre zu, zeige Anteilnahme und einige mich mit den Teilnehmern auf einen passenderen Moment.

Bunte Karten mit handgeschriebenen Sätzen

Gemeinsame Regeln machen den Umgang leichter. (Bild: Melanie Rudolph/CC BY-SA-NC 3.0)

 Was man als Lehrende wissen muss!

Fachliches Wissen ist unabdingbar, um guten Unterricht vorzubereiten. Aber der Umgang mit dem, was die Teilnehmer oder mich stört, gehört zu den alltäglichen Herausforderungen, um Unterricht möglich zu machen. Erfahrungen und Ursachenforschung erweitern die Kompetenz, mit Störungen umzugehen oder sie sogar zu vermeiden. Sehr wichtig ist es jedoch, sich aufeinander einzulassen, echtes Interesse zu zeigen und Beziehungsarbeit zu leisten. Störungen haben Vorrang, so dass es für uns als Gruppe notwendig ist, uns auf Regeln zu einigen und sie einzuhalten. Mit der Zeit reicht jedoch ein Blickkontakt und Teilnehmer ermahnen sich gegenseitig. Verhaltensweisen spielen sich ein und Rituale stabilisieren Unterrichtsabläufe. Sie verringern, aber verhindern nicht Störungen. Sie ermutigen mich auch, Lernende zu sein, meinen Unterricht zu hinterfragen und Neues auszuprobieren.

Schließlich merken die Teilnehmer, dass ich meine Rolle als Kursleiterin kenne und sie gerne wahrnehme. Sie danken es mir und wir können zusammen arbeiten.

CC BY-SA 3.0 DE by Melanie Rudolph für wb-web