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Der Dritte Ort - Versuch einer Beschreibung
Dritter Ort – der Begriff ist Anfang der 2010er Jahre vom amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg geprägt worden. Eigentlich hat der Dritte Ort zunächst nichts mit Lernen zu tun. Es ist ein Ort, der nicht zuhause ist und nicht Arbeitsort oder Schule. Man fühlt sich hier wohl, schaut gerne mal vorbei, kann bleiben und wieder gehen, Menschen treffen oder auch für sich bleiben. Es gibt etwas zu essen und zu trinken. Gespräche können geführt werden. In diesem Blogbeitrag schildert Joachim Sucker seine persönlichen Erfahrungen mit dem Dritten Ort in Verbindung mit Erwachsenenbildung. Der ehemalige Marketingleiter der VHS Hamburg begleitet heute die Entwicklung innovativer Bildungsangebote.
Die schriftliche Abschlussprüfung meiner Kaufmannsausbildung fand 1973 ich einem schmucklosen Multifunktionsraum in der Handelskammer Hamburg statt. Ich saß direkt vor einem Waschbecken, dessen Wasserhahn leider unermüdlich im Zehnsekunden-Takt einen Tropfen in die Schüssel ergoss. Es machte mich wahnsinnig.
Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass ich mich über ein Bildungssetting aufregte. Nicht allein die Lehrenden und ihre Lerndidaktik gehören dazu, auch der Raum ist ein entscheidender Faktor beim Lernen. Es gibt nicht DEN Lernraum, es gibt unendliche Möglichkeiten, Lernräume zu gestalten.
Schule kennen wir alle, viele auch Hochschulvorlesungssäle oder die leblosen grauen EDV-Räume der beruflichen Bildung. Bildungsinstitutionen werden aufgesucht, um einen Abschluss zu erlangen, vordefinierte Themen in Kursform zu erlernen. Lernen folgt hier einer klaren Agenda, dazu sind diese Räume auch konzipiert. Das sind neutrale Räume, die möglichst nichts Negatives implizieren sollen. Sie sind ein Ausdruck des kleinsten gemeinsamen Nenners - was immer das dann auch in den Köpfen der Verantwortlichen sein soll. Mit den zunehmenden Möglichkeiten des digital unterstützten Lernens im Web sind fast alle Orte zum Lernen geeignet, je nach persönlichen Vorlieben.
Freiraum für Neugierde
Das unbeabsichtigte Lernen oder auch, wie ich es nenne, Zufallslernen fußt auf unbegrenztem Lerncontent im Web. YouTube listet zum Begriff „Tutorials“ eine Trefferquote von über 175 Mio. auf. Wer über ein wenig freie Zeit verfügt und neugierig ist, sollte einmal einige Stunden auf YouTube verbringen und seiner Neugierde freien Raum lassen. Wohin das führt? Gerade das ist es ja: Ich weiß es vorher nicht. Mein erstes “Lernerlebnis” war, einem Affen beim Schälen einer Banane zu folgen. Ich hatte es bis dahin mein Leben lang „falsch“ gemacht. Egal, nicht wichtig! Aber, ich hab es bis heute als Eindruck abgespeichert.
Es gibt auch Lerneinrichtungen, die diesem Zufall auf die Sprünge helfen. Philipp Schmidt vom MIT-Media-Lab hat in einem Vortrag einmal erwähnt, dass die Studierenden im MIT-Media-Lab einen längeren Weg zu ihren Projektgruppen hinter sich lassen müssen. Dabei kommen sie an anderen Projektstationen vorbei. Manchmal bleiben sie dort stehen, weil sie etwas gefragt werden oder etwas interessant finden. Das ist ein beabsichtigter Zufall.
Selbstbestimmte Erwachsenenbildung am Dritten Ort
Dem Zufall auf die Sprünge helfen ist ein Kriterium für einen sogenannten Dritten Ort. Während wir den Arbeitsort (der Zweite Ort nach Oldenburg) oder das Zuhause (der Erste Ort) jeweils selbstverständlich nutzen, sind öffentliche Orte zunehmend eingeschränkt verfügbar. Meist sind es kommerzielle Orte. Der Dritte Ort ist auch ein Wohlfühlraum. Ich fühle mich willkommen. Der Besuch kostet nichts. Welche Einrichtung der Erwachsenenbildung wird diesem Anspruch gerecht? Der Seminarraum ist das Ziel und danach streben wir wieder hinaus. Ein Dritter Ort lädt zum Verweilen ein. Da gibt es durchaus sehr unterschiedliche, hier und da auch gegensätzliche Bedürfnisse. Intim und verborgen oder eher öffentlich einsehbar, laut oder leise - um nur einige zu nennen.
Ich kann selbst entscheiden, was ich tun möchte. Ich z. B. möchte meine Bienenstöcke digitalisieren. Ich möchte wissen, wie es „meinen“ Bienen geht. Das Angebot suche ich vergebens in den zahlreichen Kursprogrammen, was ich durchaus verstehe. Ich möchte das dazu benötigte Equipment nicht kaufen, ich möchte es selber bauen, obwohl ich keine Ahnung habe. Eine Mail zum FabLab Lübeck führte mich zum Ziel. Ich werde dort, unterstützt von Experten, anfangen zu bauen. Auch das FabLab ist eine Variante eines Dritten Ortes. Thematisch nicht ganz offen, denn es geht um analoge und digitale Werkzeuge zur Umsetzung eigener Ideen und Prototypen, aber immer selbstbestimmt. Kein Lernen nach Kapiteln, sondern angepasst nach den Wünschen. Da stehen auch keine LehrerInnen vor mir, sondern andere Menschen, die ihr Wissen mit mir teilen möchten. In diese Reihe der neuen Begegnungsräume gehören auch die Makerspaces oder Repair Cafés.
Der Dritte Ort eröffnet auch Möglichkeiten des Peer-to-Peer-Lernens. Wie zum Beispiel in der Kölner Stadtbibliothek, wo sich Menschen ohne Lehrpersonen thematisch zum Austausch verabreden. Es kommt, wer kommt - keine Mindestteilnehmerzahl, Termin und Thema an das Pinnbrett geheftet und dann mal abwarten, ob die Idee auf Resonanz stößt (siehe auch Vorstellung einer Zusammenarbeit zwischen Kölner Stadtbibliothek und MIT).
Starbucks möchte auch so ein Dritter Ort sein. Weil dort Menschen ihr Notebook aufklappen und Mails schreiben, ist es für mich kein Begegnungsraum. Es ist ein kommerzieller Raum, der außer Tischen, Stühlen und Gastro-Angeboten keine Infrastruktur bereithält. Naja, WLAN schon, aber sonst ... Das gilt auch für Co-Working-Spaces. Hier gibt es für den Zugang eine große Hürde: Co-Working ist ein kommerzieller Raum, auch wenn er sonst vieles einlöst, was Dritte Orte so sympathisch macht. Ein Dritter Ort sollte generell nicht kommerziell sein. Er verspielt sonst eine Chance als frei zugänglicher Raum seine Wirkung zu entfalten.
Dritter Ort als Ermöglichungsraum
Der Dritte Ort ist ein Ermöglichungsraum. Viele Bibliotheken widmen sich zurzeit diesem Thema. Von der Anlage her bieten sie bereits heute schon einige Möglichkeiten, denn ihre Räume sind schon offen und ihr Personal berät und begleitet die BesucherInnen. Zum wirklich Dritten Ort ist es also ein kleinerer Schritt als für Bildungseinrichtungen, die ihre Räume abschließen oder nur für Kurse öffnen.
Aber nicht nur für BesucherInnen bietet der Dritte Ort viele Möglichkeiten. Auch für die Betreiber dieser Orte ist es ein Gewinn. Von den BesucherInnen lernen, ist eine gute Gelegenheit, eigenes Wissen für die organisierte Bildung zu generieren. Und vielleicht ist das der Grund meiner Begeisterung. Der Dritte Ort ist die Aufforderung, Lernräume zu öffnen, die eigene Perspektive zu öffnen. Nicht immer nur an das eigene Angebot denken, sondern einen Ermöglichungsraum als Erweiterung eigener Arbeit zu sehen. Dabei geht es immer um die NutzerInnen und nicht um die Teilnehmenden. Ein feiner, aber entscheidender Unterschied. Und wer jetzt denkt: Ein rotes Sofa tut es auch schon, der/die sollte sich mal einige Beispiele aus Skandinavien und Holland anschauen.
Licht am Ende des deutschen Bildungsseperatismus könnte das Norderstedter Bildungshaus sein. 2021 soll dort ein Neubau fertig sein, in dem Volkshochschule, Stadtbibliothek und Stadtarchiv einen gemeinsamen Dritten Ort konzipieren. In der ersten Phase konnte ich das Projekt begleiten und meine Begeisterung kennt kaum Grenzen. Auch, weil als Innenarchitekt Aat Vos gewonnen werden konnte. Seine bisherigen Arbeiten spiegeln die Intention des Dritten Ortes schön wieder.
CC BY SA by Joachim Sucker für wb-web
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Wo passiert Lernen? In einem zugigen, schlecht beleuchteten Klassenraum, in der Straßenbahn mit dem Buch auf den Knien, zwischen den unendlichen Buchreihen einer Bibliothek, in der App auf dem Smartphone – oder doch eigentlich nur im Kopf des Lernenden selbst? Auf die Frage nach dem Ort oder dem Raum des Lernens gibt es viele Antworten. Die interessantesten und wichtigsten für Weiterbildnerinnen und Weiterbildner fasst dieser Wissensbaustein zusammen.