Jan Koschorreck Forschung quergelesen
Grundbildung meets Digitalisierung: Digitalkompetenz ist nicht Digitalkompetenz
Viele Menschen tun sich schwer mit dem Leben im Digitalen und den dazugehörigen Anforderungen, Anwendungen und Möglichkeiten. Digitalkompetenz ist deshalb in aller Munde und oft stehen technische Erfordernisse im Mittelpunkt, die notwendige Lese- und Schreibfähigkeiten werden dabei gerne vergessen oder als selbstverständlich vorausgesetzt – doch das sind sie nicht. Ilka Koppel von der PH Weingarten stellt in Ihrer Arbeit die Frage, ob gängige Modelle von Digitalkompetenz überhaupt geeignet sind für die Bildungsarbeit mit gering literalisierten Menschen und wie ein passendes Modell aussehen sollte.
Einleitung
Jeder Mensch braucht gewisse Grundfertigkeiten, um das eigene Leben bewältigen zu können und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dazu gehören Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen, oder auch z.B. gewisse Grundkenntnisse zu finanziellen Alltagsfragen. Diese Kenntnisse und Fähigkeiten an Erwachsene zu vermitteln, ist die zentrale Aufgabe pädagogischer Arbeit im Bereich Alphabetisierung und Grundbildung. Mit der Allgegenwärtigkeit digitaler Technik werden Kompetenzen im Umgang damit immer wichtiger, um sich sozial und kulturell zu beteiligen. Ilka Koppel und Sandra Langer von der Pädagogischen Hochschule Weingarten widmen sich in ihrer Arbeit der Frage, welche grundlegenden Digitalkompetenzen hierzu für Erwachsene auf Grundbildungsniveau relevant sind.
Worum geht es in dieser Studie?
Die Forschungsarbeit zielt darauf ab, zwei Fragen zu beantworten (S. 328):
- Was ist digitale Grundbildung?
- Was sind die Voraussetzungen, um digitale Technologien effizient für gesellschaftliche Teilhabe zu nutzen?
Die Autorinnen beschreiben dazu Anforderungen und Elemente von Digitalkompetenz auf Grundbildungsniveau, um sie zu ordnen und in einem Modell zu systematisieren.
Was fand die Studie heraus?
Koppel und Langer analysieren zunächst bestehende objektivistische Modelle von Digitalkompetenz, unter anderem das europäische DigComp-Modell sowie das Medienkompetenzmodell NRW. Objektivistische Modelle stellen eindeutig messbare Verhaltensweisen in den Mittelpunkt für die Ausformulierung und Feststellung von Kompetenzen. Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass diese Modelle auf den niedrigen Kompetenzstufen zu wenig differenziert sind, d.h. die kleinsten Bausteine von Digitalkompetenz fassen ggf. immer noch mehr als eine Fähigkeit zusammen (S. 331 f.). Weiterhin stellen diese Modelle in ihren Stufen vor allem auf kognitive Leistungen ab – für die soziale Teilhabe im digitalen Raum sind allerdings auch soziale Fähigkeiten unerlässlich, beispielsweise zur Einschätzung, wann welche Nachrichten (un-)angemessen sind. Diese Komplexität von Aufgaben oder Lernanlässen bilden sie schlecht ab, was sie für den Bereich AuG ungeeignet mache (ebd.). Sie argumentieren, dass die Grundbildung von Menschen vor allem auf die Ermöglichung von Teilhabe an der Gesellschaft abzielt. Was das jeweils bedeutet ist je nach kulturellem Umfeld unterschiedlich. Daher sollte ein Modell von Digitalkompetenzen für die Grundbildung neben formalen Aspekten auch kulturell interpretierbare Aspekte enthalten. In diesem Zusammenhang sprechen die Autorinnen von digitaler Literalität. Hier beziehen sich die Anforderungen nicht allein auf verschiedene Technologien, sondern auch auf „digitale Handlungen der sozialen Teilhabe“ (S. 340). Koppel und Langer diskutieren verschiedene Konzeptionen digitaler Literalität und leiten daraus zentrale Aspekte digitaler Literalität ab, die sie anschließend auf die Grundbildung zuspitzen und in das nachfolgend abgebildete Modell verdichten:
Im Modell gibt es drei aufeinander aufbauende Voraussetzungen für digitale Literalität: Zugang zu digitaler Technologie, Interesse, Bedürfnis und Selbstvertrauen bei der Nutzung von Computern sowie grundlegende Bedienfertigkeiten wie Tastatur- und Mausbenutzung. Auf dieser Basis bauen die drei Bereiche digitaler Literalität auf: Hintergrundwissen, zentrale Kompetenzen sowie Einstellungen und Sichtweisen. Diese enthalten verschiedene Fähigkeiten, die jedoch nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen, sondern als gleichwertig betrachtet werden (S. 341 f.).
Warum sind die Ergebnisse für die Erwachsenenbildung relevant?
Ein Modell digitaler Literalität für gering literalisierte Menschen kann dabei helfen, dieser Zielgruppe auf gesellschaftliche Teilhabe fokussierte Bildungsangebote in Verbindung mit und unter Einsatz von digitalen Medien zu machen. Gerade digitale Lernwerkzeuge wie bspw. Apps bieten enormes Potenzial für den Erwerb von Grundbildung. Eine Herausforderung ist es sicherlich den Erwerb digitaler Fähigkeiten zur sozialen Teilhabe sowie technischen und kognitiven Grundfertigkeiten so zu integrieren, dass die Teilnehmenden nicht ggf. durch parallele oder widersprüchliche Anforderungen frustriert werden. Andererseits bietet der Zugang über die Fähigkeit digitaler sozialer Teilhabe die Chance, bestimmte Gruppen durch die Eröffnung neuer Kommunikationswege (etwa Sprach- und Textnachrichten) zu demarginalisieren, z.B. ältere Menschen mit und ohne Migrationsbiografie.
Wie schätze ich die Studie ein?
Die Studie von Koppel und Langer ist eine klassische modellbildende Studie, in der auf Basis umfassender Literaturrecherche und -analyse zum Thema ein eigenes Modell vorgeschlagen wird. In der Argumentation und der Herleitung sind die Autorinnen schlüssig, der Nachweis der Tauglichkeit des Modells durch einen Einsatz in der Praxis, welcher durch Forschende begleitet wird, ist der logische und notwendige nächste Schritt. Letztendlich bleibt auch dabei offen, ob und wie das Modell von der Praxis angenommen und angewendet wird. Hierfür ist es wichtig, vom abstrakten Modell zu konkreten Handlungsanweisungen bzw. -empfehlungen zu kommen, inklusive der Konzeption erfolgreicher Lernangebote auf Basis des Modells durch die Praxis.
Wo finde ich den Originaltext zum Nachlesen?
Die Zitation des Beitrags lautet wie folgt:
Koppel, I. / Langer, S. (2020). Basic Digital Literacy – Requirements and Elements. In: Práxis Educacional, 16(42), 326-347. https://doi.org/10.22481/praxisedu.v16i42.7354
Der Beitrag ist im spanischen Journal Práxis Educacional in englischer Sprache erschienen und kann dort ohne Anmeldung kostenfrei heruntergeladen werden
Quellen
Koppel, I. / Langer, S. (2020). Basic Digital Literacy – Requirements and Elements. In: Práxis Educacional, 16(42), 326-347. https://doi.org/10.22481/praxisedu.v16i42.7354
BAWDEN, D. (2008). Origins and Concepts of Digital Literacy. In: Lankshear, C./Knobel, M., eds. Digital Literacies. Concepts, Policies and Practices. New York: Peter Lang. pp. 17-32.
REDER, S. 2015 Digital Inclusion and Digital Literacy in the United States: A Portrait from PIAAC’s Survey of Adult Skills.
CC BY SA 3.0 DE by Jan Koschorreck für wb-web (16.08.2022), letztmalig geprüft am 07.03.2024
Digital Literacy
Anders als bei der Frage "Wer war zuerst da: Henne oder Ei?" ist die Frage in der digitalen Grundbildung einfach zu beantworten. Die Angebotsplanung folgt der technischen und anwendungsbezogenen Entwicklung. Doch wenn selbst technikaffine Menschen mehr oder weniger mühsam den neuesten Trends hinterherlaufen, weniger affine sie gar ablehnen, offenbart sich ein Dilemma für die Grundbildung. Niemand weiß, welche Entwicklung nur eine Eintagsfliege ist oder welche sich dauerhaft etabliert. Wie kann die Entwicklung von Bildungsangeboten zu digitalen Anwendungen zum Beispiel für Geringqualifizierte, Seniorinnen und Senioren sowie arbeitsmarktferne Menschen und Geringverdienende mit den vielfältigen Neuerungen und Sicherheitsaspekten Schritt halten? Dabei sichert heute die Fähigkeit der kritischen, kundigen und gestalterischen Anwendung von digitalen Medien – neben der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz – gesellschaftliche Teilhabe und die Anbindung an den Arbeitsmarkt. Der Erwerb von digitaler Kompetenz kann sowohl eigenständig wie auch als Querschnittsaufgabe mit dem Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen einhergehen.