Was verbindet Sie persönlich mit dem Feld der Erwachsenenbildung? Sollten Kursleitende zeichnen und dichten können? Was kann die Erwachsenenbildung von Sartre lernen? Diese und mehr Fragen stellte wb-web an den bekannten Kommunikationspsychologen Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun. Unter erschwerten Bedingungen, denn der Besuch des Interviewers in Hamburg startete mit einer Überraschung. Eigens von Bonn angereist findet Peter Brandt am Flughafen Fuhlsbüttel eine Nachricht in seiner Mailbox, dass sich der emeritierte Professor im Krankenhaus befindet. Es sagt eine Menge über Schulz von Thun aus, dass er ihn spontan am Krankenbett befragen darf und nicht unverrichteter Dinge heimfahren muss.
wb-web: Herr Schulz von Thun, Ihren Namen kennt in der Praxis der Erwachsenenbildung wirklich jeder. An Ihren Modellen wie Kommunikations- und Wertequadrat kommt kein Erwachsenenpädagoge vorbei. Ihre Bücher sind Bestseller unter Trainern und Dozenten. Was verbindet Sie persönlich mit dem Feld der Erwachsenenbildung?
SvT: Seit meinen Volkshochschulkursen Ende der 1960er Jahre war die Erwachsenenbildung mein Leben, als Lehrer, Trainer und Teilnehmer. TZI bei Ruth Cohn hat meine Vorstellung von Erwachsenenbildung revolutioniert. Und nicht zu vergessen habe ich auf solchen Kursen wichtige Menschen meines Lebens kennengelernt, z.B. meinen besten Freund und meine Frau. Hier ist Zeit und Gelegenheit, jemandem auf tieferer Ebene zu begegnen. Sowas war doch vor 50 Jahren undenkbar. Mein Vater hatte nie die Möglichkeit, an einem Kurs teilzunehmen. Also, ist doch ein Segen, dass es so etwas wie die Erwachsenenbildung gibt, nicht wahr?
wb-web: Ein Teil Ihrer bekanntesten Ideen ist unter Einwirkung der Erwachsenenbildung entstanden. War diese Form der praktischen Bewährung ein Schlüssel für deren Ausprägung?
SvT: Ja, tatsächlich, beim Kommunikationsquadrat ist bei mir selbst der Groschen nicht an der Universität, sondern an der Elbchaussee gefallen, wo ich als Leiter von Führungskräfteseminaren bei der BP den Teilnehmern Kommunikation beibringen sollte. Das war Anfang der 1970er Jahre. Vorher hatte ich das Organon-Modell von Bühler an der Uni gelesen. Und weil ich dann die Praktiker als berührbare und aufgeschlossene Menschen erreichen wollte, durfte nicht akademisch klingen, was kluge Geister vorher zum Thema Kommunikation geschaffen hatten. Nach und nach und in Verbindung mit Praxisbeispielen wurde aus dem Dreieck ein Quadrat mit vier Schnäbeln und vier Ohren. So sind der Professor und der Trainer zusammengewachsen und konnten sich gegenseitig befruchten.
wb-web: Wie sehen Sie Ihre Rezeption in der Erwachsenenbildung? Fühlt sich ein Schulz von Thun da immer richtig verstanden?
SvT: Nun, ich bin ja nicht immer dabei. Aber mein Eindruck ist, dass gerade das Kommunikationsquadrat nicht immer in der Tiefe verstanden wird, wie es gedacht und gemeint ist. Da gibt es sicher Verirrungen und Verflachungen. Zum Beispiel hörte ich jemanden zu seinem Kollegen sagen: „Wenn Sie Schulz von Thun gelesen hätten, dann dürften Sie so nicht reden“. Das Quadrat enthält jedoch keine Anleitung zum richtigen Reden! Es ist ein Sensibilisierungs- und Bewusstseinsquadrat, eine Art Harmonielehre, auf deren Grundlage man komponieren und hören kann. Auf dieser Klaviatur der Kommunikation haben wir blaue Tasten für die Sachebene, grüne für die Selbstkundgabe, gelbe für die Beziehungsebene und rote für den Appell.
wb-web: Und überdies sind Sie auch noch instrumentalisiert worden.
SvT: Ja, der kommunikationspolizeiliche Knüppel ist nicht im Sinne des Erfinders.
wb-web: Welche Trends nehmen Sie in der Erwachsenenbildung wahr? Gibt es Entwicklungen, die Sie kritisch sehen?
SvT: Ja, da gibt es etwas: Ich sehe eine Tendenz zu Fast Food-Kursen. Fortbildungen, die ich früher bei Ruth Cohn gemacht habe, dauerten 14 Tage. Und was wir in den 1970er Jahren als Wochenkurse durchgeführt hatten, darf heute höchstens noch ein bis zwei Tage dauern. Da geht dann etwas verloren, was den Sinn und Geist betrifft, und auch, was den Menschen betrifft. Heute scheint man vorrangig darauf aus zu sein, die äußere Seite der Kommunikation zu „optimieren“. Man soll lernen, schlagfertig und souverän Situationen zu meistern. Das ist nicht verkehrt, aber soziale Kompetenz hat auch und nicht zuletzt eine Innenseite: dass ich innerlich souverän und unverklemmt werde, und das kommt dabei zu kurz. Kennen Sie den Film Toni Erdmann? Seine Tochter, eine Unternehmensberaterin, ist derart perfekt im Umgang mit Kunden, Chefs etc. und innerlich total verquer – ein Prototyp, den ich vor Augen habe, wenn ich die eben genannte Gefahr beschreibe. Deshalb ist unsere große Überschrift: Professionalitätsentwicklung mit menschlicher Entwicklung verbinden! Ruth Cohn hat mich gelehrt, da war ich schon Professor und gestandener Trainer: „Du hast viele gute Tools und Techniken. Aber in deinem Beruf bist du selber, wie Du z.B. mit deinen Gefühlen umgehst und mit denen anderer, dein wichtigstes Instrument!“. Da musste ich mich nochmal selber auf die Schulbank setzen. Und habe es nicht bereut, das getan zu haben. Da ist wahrscheinlich die Keimzelle meiner Skepsis gegenüber einer Schulung eines (vermeintlichen) Optimalverhaltens.
wb-web: Sie sind ja selber ein großer Vermittler und Erklärer, jedenfalls hat die Vermittlungsarbeit neben der Hochschullehre immer auch Seminare mit Praktikern und das Schreiben von Büchern umfasst. Das ging, wie Sie selber verschiedentlich eingeräumt haben, zulasten eigener Forschung. Wie sehr bedauern Sie das?
SvT: Dürfte ich in einem nächsten Leben noch einmal Professor für zwischenmenschliche Kommunikation sein, würde ich gewiss nach einem Forschungsansatz suchen, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und zugleich existenziell und praktisch relevante Fragen aufwirft. Mein erster Versuch in diesem Leben hat aber immerhin einige wichtige Erkenntnisse hervorgebracht, und vielleicht noch mehr: hat dazu geführt, dass wichtige Erkenntnisse für viele Menschen verständlich gemacht werden konnten und dass, im zweiten Schritt, aus dem Kennen ein Können werden konnte. Dafür braucht es übrigens Erwachsenenbildung – das Kennen(lernen) allein kann auch gut aus Büchern gelingen. Und immerhin, es fühlt sich schon gut an, etwas entwickelt zu haben, was zu Lebzeiten Allgemeinbildung geworden ist; meine Kinder mussten Schulz von Thun in der Schule lernen.
wb-web: Sie selber bedienen sich in der Vermittlungsarbeit gerne des Dichtens und Zeichnens. Wie wichtig sind diese Fähigkeiten für Trainer und Kursleitende in der Erwachsenenbildung?
SvT: Auf jeden Fall das Visualisieren, und zwar nicht die perfekte PowerPoint-Datei, sondern die Ad-hoc-Visualisierung dessen, was hier und jetzt aktuell wird. Jede Trainerin und Coach, jeder Moderator, jede Führungskraft sollte ein Flipchart im Hintergrund haben. Ein Strichmännchen, ein Pfeil und eine Wolke, das kriegt doch jeder hin, ohne ein großer Künstler zu sein. Als Fachbereichssprecher an der Universität habe ich das in hochprofessionellen Sitzungen genutzt. Bin aufgestanden und habe gesagt, „Was ich bis jetzt verstanden habe…“ und habe Pfeile und Kreise aufgemalt. Da bekommt man dann den Systemblick: wie das Ganze und seine Teile zusammenhängen. Und alle verdeckten Dilemmata, Ungeklärtheiten und Missverständnisse werden offensichtlich – und bei der anschließenden Diskussion haben alle das Gleiche vor Augen. Ein Zaubermittel der Verständigung! Vor allem auf der Sachebene, aber wohltuend zugleich für ein gedeihliches Miteinander.
wb-web: Wo kann man das lernen?
SvT: In unseren Curricula ist die reichhaltige Visualisierung von Inhalten und Prozessen ein durchgehendes Prinzip, und ein Kurs zielt speziell darauf ab. Ich habe mal einen ermutigenden Artikel geschrieben „Auch Sie können aus dem Stegreif visualisieren“[1], und demnächst möchte ich ein Buch schreiben über die Kunst, seelische Vorgänge in Schaubildern darzustellen, mit etwa hundert Beispielen. – Das mit den Gedichten wäre natürlich zusätzlich schön. Ich habe eine Sammlung von selbst verfassten „Lehrgedichten“, und für manche Inhalte können Gedichte von Hesse oder Rilke das Verständnis vertiefen. Bei unseren Teilnehmern sind sie sehr willkommen. Dichten oder Gedichte wiedergeben ist sicher keine conditio sine qua non für Erwachsenenbildner, das Visualisieren-Können schon.
wb-web: Ihr Credo lautet mit Sartre: „Jeder kann jederzeit aus dem etwas machen, was man aus ihm gemacht hat!“ Was macht den Satz so wichtig und was kann er für die Erwachsenenbildung bedeuten?
SvT: Der Satz ist so schön dialektisch, weil er die Selbstbestimmung mit dem Eingeständnis der Schicksalshaftigkeit verbindet. Das Menschliche ist mir gegeben und zugleich aufgegeben. Ich habe es mir nicht ausgesucht, dass ich mit fünf Fingern, Augen und Ohren auf die Welt gekommen bin. Ich wurde ungefragt entbunden und werde ungefragt wieder sterben. Es ist mir etwas gegeben. Und es ist mir etwas aufgegeben, nämlich das verwirklichen, was in mir steckt, für mich zu sorgen, dass ich wachsen und aufblühen kann. Diese Dialektik von Geschöpflichkeit und freier, selbstbestimmter Entwicklung ist auch in der Erwachsenenbildung zu beachten. Ein Anfang wäre, sich dieser Dialektik erst einmal bewusst zu werden. Es gibt ja Motivationstrainer, die im eifrigen Ton der Verheißung verkünden: „Willst du Ameise sein oder Adler – es liegt allein an Dir!“ Der Gedanke der Selfmade-Person ist hier überzogen. Ja, ich habe vielleicht potentielle Flügel, aber vielleicht auch starke Erdbindungen, und vielleicht bin ich von meinem Wesen her als eine gute Ameise auserkoren. Die Erwachsenenbildung hat die Aufgabe, zur Selbstverwirklichung zu ermutigen, nicht zur Selbstoptimierung! Sei du selbst und werde, der du bist. Und wisse, dass du aus dem etwas machen kannst, was man aus dir gemacht hat. Zu sich selber zu stehen bedarf der Übung und der Ermutigung. Mut ist nötig, denn wenn du zu dir selbst stehst, gefährdest du wahrscheinlich manche Harmonie in der Beziehung zu anderen. Und es bedarf der Übung, an deine innere Wahrheit heranzukommen, um dann spruchreif werden zu lassen, was dich ausmacht und wozu du stehst.
wb-web: Das hört sich mehr nach Beratung oder Coaching an als nach Erwachsenenbildung!
SvT: Das ist aus meiner Sicht Menschenbildung, die wir nicht den Therapeuten überlassen sollten. Zum Beispiel beginnen unsere Kurse jeden Tag mit einer Morgenrunde, in der jeder eingeladen ist zu sagen, wie ihm uns Herz ist und was ihm durch den Kopf geht, wenn er an diese unsere Veranstaltung denkt. Wie geht es mir hier? Wie komme ich klar, mit den Inhalten und den Lehrmethoden, den anderen Teilnehmern, mit der Kursleiterin? Huh, da gibt es vielleicht manch ketzerischen Gedanken, den ich nicht unbedingt preisgeben möchte. Und richtig: beachte die Grenzen deiner Selbstdiskretion! Aber schau auch, ob du ein kleines Wagnis eingehen kannst, von deiner inneren Wahrheit etwas zu veröffentlichen und damit in Kontakt zu treten! – Das gehört zur Persönlichkeitsbildung – sehen Sie das auch so?
wb-web: Ich weiß nicht, mir ist immer an einer möglichst klaren Aufgabenbestimmung der Erwachsenenbildung gelegen. Wenn die Rolle der Erwachsenenbildung allein in der Ermutigung liegt, die eigenen Ressourcen zu erkennen und zu nutzen und in der Übung, zur inneren Wahrheit zu kommen und diese auszusagen, dann ist mir das noch zu sehr auf der Seite von Beratung und Coaching, eventuell sogar der Therapie angesiedelt. Ich würde den Nachsatz einfügen: Erwachsenenbildung unterstützt Dich bei allem, was Du jetzt noch lernen willst. Werde der, der du werden willst und ich unterstütze dich bei allem, was du dazu lernen willst. Also nicht nur das Finden der inneren Wahrheit zu unterstützen, sondern alle davon ausgelösten Lernprozesse auch umzusetzen.
SvT: Unbedingt, da haben wir keinen Dissens! Wenn du deine Entwicklungsrichtung gefunden hast, dann bist du in der Erwachsenenbildung goldrichtig. Aber es stimmt, die klare Abgrenzung zu Coaching und Therapie ist manchmal nicht leicht. Wenn du ein Computerprogramm lernen willst, ist dein Innerstes nicht berührt, aber wenn du kommunizieren lernen willst, ist das anders. Nur wer sich selbst versteht, kommuniziert besser. Da haben viele einen großen Entwicklungsbedarf, und da hatte auch ich ganz persönlich ein großes Defizit. Mithilfe des Modells vom „Inneren Team“ kann ich meine inneren Wortmelder dann doch herausfinden – diese Fähigkeit zur Selbstklärung ist eine Aufgabe von Bildung, gerade auch von Erwachsenenbildung. Aber die Grenze zu Coaching und Therapie wird hier fließend, ob wir wollen oder nicht. Der Erwachsenenbildner muss daher ein gutes Gefühl für Stimmigkeit haben, was in dem jeweiligen Rahmen passt, was zum Vertrauen in der Gruppe und was zu seiner Ausbildung passt. – Überhaupt ist Stimmigkeit das Metaideal unserer ganzen Kommunikationslehre, nämlich das Wesensgemäße (Authentische) und das Situationsgerechte miteinander gleichwertig zu verbinden.
wb-web: Wie auch in der Lebenskunst, in dem Thema, dem Sie zuletzt mit Bernhard Pörksen auf der Spur waren.
SvT: Auf die Lebensführung bezogen heißt Stimmigkeit, dass ich mein Leben so führe, wie es mir zutiefst entspricht, dass ich mich nicht verbiegen muss und mehr und mehr in Übereinstimmung mit mir selber komme. Und dass ich zweitens dem gerecht werde, was mir mein Schicksal abverlangt. Auch dem, was mir aufgegeben ist, will ich gerecht werden, nicht nur dem, was mir eingegeben ist. Dies sehe ich als die Balance unseres Lebens an.
wb-web: Wie Sie die Interviewsituation am Krankenbett meistern macht es den Eindruck, dass Sie die Balance schon ziemlich gut gefunden haben. Vielen Dank, lieber Herr Schulz von Thun, bis hierhin. Wir setzen unser Gespräch an anderer Stelle fort, worauf ich mich sehr freue.
Den zweiten Teil des Gesprächs lesen Sie in der kommenden Ausgabe (II/2017) der DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung.
[1] Erschienen in: Pädagogik 10, 1994, S. 11–14.